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Mit Händen, Füßen und Musik
Weil in der Ukraine der Krieg tobt, ohne dass die westliche Welt es noch groß zur Kenntnis nimmt, hat Anna Skryleva, Erste Kapellmeisterin am Staatstheater Darmstadt, das Projekt Classic for Peace ins Leben gerufen. Von Ende August bis Anfang September werden junge Musiker aus der Ukraine und Russland nach Deutschland kommen, um mit der Kammerphilharmonie Frankfurt gemeinsam zu musizieren. Das soll Zeichen setzen.
1957 besuchte der Student Helmut Lachenmann zum ersten Mal die Darmstädter Ferienkurse. Die waren elf Jahre zuvor vom Leiter des städtischen Kulturamtes, Wolfgang Steinecke, ins Leben gerufen worden. Zwölf Tage lang trafen sich Musiker und Komponisten aus aller Welt, um über „Neue Musik“ zu streiten, sich Tonbandaufnahmen oder Uraufführungen anzuhören. Damals schaute die Welt auf Darmstadt. Radikales, aber friedvolles Denken über eine Musik der Zukunft stand im Zentrum der Zusammenkünfte. Es gab viel Nachholbedarf, schließlich hatte die Diktatur und ihr „Führer“ Adolf Hitler Richard Wagner für sich vereinnahmt und moderne Klassik verpönt – der Krieg besorgte den Rest. Die jungen Komponisten sind hungrig. „Frei sein heißt in dem von mir gemeinten Sinne: selbst die Entscheidung wissen, nicht entscheiden in Bezug auf ein Dogma, sondern auf die eigene Notwendigkeit, auf den eigenen Willen“, postuliert Lachenmann noch als Student in einem Referat vor Studenten.
Inzwischen haben sich die hitzigen Debatten der 1960-er Jahre gelegt, sind die Darmstädter Ferienkurse eine eingefahrene Institution. Zeit für Anna Skryleva, einen neuen Impuls zu setzen. Die Erste Kapellmeisterin und Stellvertretende Generalmusikdirektorin am Staatstheater Darmstadt will sich nicht damit abfinden, dass die Medien einen Krieg totschweigen. „Als geborene Russin hat mich natürlich der im vergangenen Jahr eskalierte Konflikt zwischen Russland und der Ukraine persönlich ergriffen. Der Konflikt um die Ukraine hat die ganze Welt gespalten und gezeigt, wie innerhalb von Wochen, sogar Tagen, die friedlichsten Nachbarn zum gegenseitigen Hass provoziert wurden“, erzählt die Musikerin. Mit kriegerischen Auseinandersetzungen kann sie nichts anfangen. „Als Musikerin gehöre ich zu einem multikulturellen Milieu, wo täglich mehrere Kulturen miteinander kommunizieren. Als Künstlerin und in erster Linie als Mitglied einer Weltgesellschaft verspüre ich den Drang, mit ‚meiner‘ Musik positive Botschaften ans Publikum zu tragen. Und die Musikbühne als Friedenspodium zu verwenden.“ Also gründete Skryleva im vergangenen Jahr den Verein Classic for Peace. Von Darmstadt soll wieder ein musikalischer Dialog ausgehen, nur diesmal nicht selbstreferentiell, sondern im Einsatz für den Frieden.
Musik als Friedenssymbol
Die Kammerphilharmonie Frankfurt ist ein freies Orchester junger Profimusiker, das immer wieder versucht, neben herkömmlichen Konzerten auf neuen und innovativen Wegen das Publikum zu begeistern. Der größte Teil des Klangkörpers sind studierte Musiker, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Hinzu kommen immer wieder studentische Aushilfen, die die Gelegenheit bekommen, auf professionellem Niveau zu musizieren. Gleichzeitig kann die Kammerphilharmonie dadurch immer wieder exzellente, junge Musiker für das Ensemble begeistern. Das Durchschnittsalter der Musiker liegt bei Mitte 20. Sie arbeiten eigenständig und entwickeln musikalische Ideen und Konzepte aus ihren eigenen Reihen. Durch diese Arbeitsweise entstehen enge persönliche Kontakte zwischen den Musikern, die zu einer positiven und freundschaftlichen Atmosphäre führen, die das Ensemble prägt.
Dirigentin und Orchester haben sich gesucht und gefunden. „Schon nach dem ersten Gespräch haben wir gemerkt, dass dieses Projekt absolut zu uns passt und waren überzeugt davon. Gerade in Zeiten der Unruhen auf der ganzen Welt ist es wichtig, dass wir Musiker Zeichen setzen. Dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Dass junge Menschen aus verfeindeten Lagern zusammen auf der Bühne stehen und gemeinsam musizieren, ist ein deutliches Ausrufen der Friedensbotschaft“, erklärt Nicolai Bernstein, Geiger bei den Philharmonikern.
Die Jungen sind unsere Hoffnung
Das Projekt, von dem er spricht, ist das erste Projekt von Classic for Peace. Etwa zwei Wochen lang werden hochtalentierte Kinder und Jugendliche aus der Ukraine und Russland in Darmstädter Familien leben, um gemeinsam mit den Musikern der Kammerphilharmonie zu musizieren. Neuland betreten sie damit alle. Denn Komponist Leon Gurvitch ist von der Idee so begeistert, dass er eine Komposition beisteuert. Fünf Tänze im alten Stil für Streichorchester. „Mein ganzes Leben spiele ich zusammen mit Musikern aus fünf Kontinenten, und ich merke ständig, dass es vielleicht Unterschiede in unseren Köpfen gibt, aber nicht in unseren Herzen“, ist Gurvitch überzeugt.
Die Vorfreude fast aller Beteiligten ist groß. Bis auf den 16-jährigen Geiger Toma Bervetskyi aus Lemberg in der Westukraine, der an Meisterkursen in Hamburg teilgenommen hat, kennen die Gäste Deutschland noch nicht. „Ich freue mich auf viele positive Emotionen, auf die Auftritte, auf neue Bekanntschaften, auf neue Städte, auf die Menschen. Ich freue mich, eine neue Kultur kennenzulernen“, sagt Alissa Lebedeva aus Russland, stellvertretend für die anderen Teenager, die alle mal Berufsmusiker werden wollen und dafür schon jetzt ihr Leben der Musik widmen. Berührungsängste gibt es bei den jungen Leuten nicht, auch wenn keiner der Gäste der deutschen Sprache mächtig ist. Viele setzen auf ihre Englisch-Kenntnisse, ohne wirklich darauf zu vertrauen. „Genauso international sind gute Laune und ein Lächeln“, ist sich Alexey Nikolaev sicher. 18 Jahre ist er alt, stammt aus Russland und spielt die Balalaika. „Sollte es dennoch Sprachprobleme geben, werden wir diese mit Händen und Füßen lösen. Zudem verstehen beide Seiten die Sprache, die uns alle verbindet: unsere Musik. Dadurch werden kommunikative Hürden von Anfang an beseitigt sein“, freut sich Bernstein.
Ein dicker Wermutstropfen trübt dann doch die allgemeine Euphorie. Ausgerechnet die elfjährige Geigerin Lia Bocharova aus Donezk wird an dem Besuch nicht teilnehmen. „Im Moment ist die Lage in der Ost-Ukraine ganz dramatisch: Die Stadt befindet sich in einer Blockade, ist von zwei Armeen eingekesselt. Gerade die Künstler, die im Moment isoliert und umkreist von Schwerartillerie leben: gerade die brauchen ein Zeichen, dass sie nicht vergessen werden“, sagt Skryleva mit schwerer Stimme. Die Gräuel des Krieges finden statt, auch wenn das Fernsehen nicht darüber berichtet.
Michael S. Zerban, 15.7.2015
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