Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Karl-Bernd Karwasz

Aktuelle Aufführungen

Klangmächtiger Triumph des Volkes

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgski)

Besuch am
25. März 2016
(Premiere)

 

 

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Es ist weit mehr als nur eine Legende, dass Modest Mussorgsky im Reigen des „Mächtigen Häufleins“ der kühnste, aber zu Lebzeiten auch der am meisten verkannte war. Der Trunksucht verfallen und als Autodidakt angreifbar, erlebten ihn nur die engsten Vertrauten als den, der er war, philosophisch gebildet, literarisch begabt, scharfsinnig und couragiert, überragend in seiner Sicht auf Wesen und Charaktere seiner Gegenüber. Kunst verstand er als ein Mittel, ein Gespräch zu führen. Handlungen, Personen in seinen Opern wollte er nicht final-kausal, sondern historisch-philosophisch, von wechselnden Perspektiven betrachtet und nie endgültig bewertet sehen.

Dieser Anspruch erklärt, warum Boris Godunow nach der gleichnamigen Chronik von Alexander Puschkin in drei Fassungen existiert. Die erste Fassung von 1869 erzählt Aufstieg und Untergang des Zaren Boris, die zweite Fassung von 1872 bringt den intriganten und vermeintlich rechtmäßigen Herrscher Dimitri und dessen zukünftige Frau mit in die Szenerie, die dritte Version von 1874 entspricht der zweiten und divergiert nur innerhalb der Szenen. Mit diesen Änderungen wollte er das Vergangene im Gegenwärtigen zeigen. Würde man die Umkehrung dieses Gedankens, nämlich „das Gegenwärtige im Vergangenen entdecken“ als Regieanweisung verstehen, könnte mit Blick auf Mussorgskis bedeutendste Oper Boris Godunow eine das Heute und Gestern verbindende Aktualität zu Tage gefördert werden. Denn wie ein roter Faden zieht sich das intrigante Spiel skrupelloser Machthungriger durch die Geschichte bis in die Gegenwart, ebenso die Verführbarkeit des elenden und geknechteten Volkes.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Regisseur und Bühnenbildner Christian Sedelmayer bleibt mit seiner Inszenierung am Staatstheater in Wiesbaden jedoch beim Historien-Drama mit gleichem Bühnenaufbau und Kostümen wie im vergangenen Jahr in Darmstadt. Damals entschied er sich für eine Mischfassung mit dem Akzent auf die Chronologie der Ereignisse. Das war durchaus schlüssig. In der aktuellen viereinhalbstündigen Inszenierung am Staatstheater in Wiesbaden erlebt das Publikum die zweite und bekanntere Fassung, wieder jedoch als Chronologie des historischen Dramas zwischen Volk und Herrscher. Sedelmayers Aufmerksamkeit gilt dem Aufstieg und Untergang eines von der Macht beherrschten Psychopathen, dem der Aufstieg eines neuen untergehenden Machthungrigen auf dem Fuße folgt. Das Volk jammert und jubelt zu jedem Anlass in schillerndsten Klangfarben, mächtig und seelentief, hymnisch verwehend in den fernen Chorälen, beeindruckend gewaltig donnernd in den Lobgesängen, und immer geordnet sauber und durchlässig wie die gezielt auschoreografierten Volksszenen an sich. Die Chöre der Staatstheater in Darmstadt und Wiesbaden, die ihre Dirigenten Albert Horne und Thomas Eitler-de Lint hier zu einem beeindruckenden Klangkörper zusammenführten, sind Grund genug, diese Aufführung zu erleben.

Foto © Karl-Bernd Karwasz

Die einzelnen Charaktere durchleuchtet Sedelmayer psychologisch nach shakespearescher Manier. Zsolt Hamar am Dirigentenpult garantiert für die richtige Scharfzeichnung. Überaus beeindruckend gelingt ihm mit dem Orchester des Staatstheaters Wiesbaden gewaltige Klangpracht und kontrastreiches Spiel im Detail.

Konsequent kennzeichnet Sedelmayer durch Raum und Kostüme Reichtum und Armut, Aufstieg und Verfall. Die goldene Kuppel, das Zentrum der Macht, ist eine Dauerbaustelle, das Gemach der polnischen Adeligen Mnischek ein trügerisches Idyll vom Garten Eden. Walkürenhaft imposant postiert sie als stolze Domina in Lack auf dem schwarzen Marmorsockel, den ihre blutverschmierten Bediensteten eilfertig polieren. Monica Bohinec brilliert stimmlich und darstellerisch und überzeugt auch den letzten Zweifler von ihrer Fähigkeit, den verliebten Dimitrij, den Richard Furmann mit heller Brillanz spielt, für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Auf die Distanz gesehen zum Verwechseln ähnlich, lassen sich beide am Ende vom Volk bejubeln.

Ähnlich erfrischend irritierend und spannend gelingt Sedelmayer die erste Szene im zweiten Akt. Zu sehen sind die Kinder von Godunow im Zarengemach. Hier verlässt Sedlmayer die Ebene der reinen Erzählung, um in der Gegenwart den Blick auf ihr Schicksal zu lenken, das sie in der Zukunft ereilt, wenn die Geschichte um Godunow längst abgeschlossen ist. Solcherlei hätte man sich mehr gewünscht. Stattdessen sehr offensichtlich und direkt, bisweilen bedauerlicherweise derb, klischeeartig und langatmig erklärt Sedelmayer die Vorgänge, um nichts der Deutung oder gar dem Missverstehen zu überlassen.

Das mag dazu beitragen, dass sich die Zahl der Premierenbesucher von Pause zu Pause reduziert. Wer bleibt, dankt mit wohlwollendem Applaus für die musikalisch überzeugende Aufführung.

Christiane Franke