Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Frieden bis zum Tode

OWEN WINGRAVE
(Benjamin Britten)

Besuch am
16. Januar 2016
(Premiere)

 

 

Theater Osnabrück

Frieden entstand nie aus Krieg – mit diesem Credo plädiert Benjamin Britten in seiner wenig gespielten Oper Owen Wingrave für eine Gesellschaft im Frieden, für seine eigene pazifistische Grundhaltung, die er angesichts des zweiten Weltkrieges und des Vietnamkrieges vehement einnimmt und öffentlich vertritt.

Im England des 19. Jahrhunderts treffen zwei Strömungen auf einander, die eine Gesellschaft in Konventionen und Traditionen erstarren lassen: die steife semi-aristokratische Etikette des Großbürgertums und die hohe gesellschaftliche Stellung der leitenden Militärs. Diese hochgradig formalisierte und in Etikette und Formen unbeweglich gewordene Gesellschaft lässt der Individualität des einzelnen kein Platz, sie ist ihr unerwünscht, sie stört. Eine individuelle Entwicklung wird in der frühkindlichen Zucht ebenso verhindert wie in den brutal-zynischen Internaten, sie setzt sich nahtlos fort in den Militärakademien und wird zum erdrückenden Alltag in vielen Familien, auch der Offiziersdynastie der Wingraves. In ihr versucht der letzte Spross Owen gegen die Tradition der Familie und seiner Umwelt seine Überzeugung von der Sinnlosigkeit der Kriege zu leben und seine Armeelaufbahn zu beenden, bevor sie richtig begonnen hat – und verrechnet sich gründlich und tragisch. Dieser Familie, dem Offiziersadel der Wingraves, dieser Gesellschaft in viktorianischer Zeit, sind viele Reformen erspart geblieben, die im übrigen Europa neue Strukturen schufen. Auf dem Familienbesitz Paramore gilt der Mann, der den Kriegsdienst verweigert, „als Feigling und Verweigerer seiner Lebenspflicht“. Das lassen sein Ausbilder, sein Freund, seine Familie, vor allem sein Großvater, ein alt-zackiger Offizier den Spross Owen bis hin zu seiner Enterbung spüren. Auch seine Braut Kate versteht nicht, dass er „sein eigen bestimmtes Leben in Frieden“ will und die bramarbarsierenden, von Ehre und Heldentod lügenden Reden und Gepflogenheiten von Familie und Militär für falsch hält und sich dagegen auflehnt. Owen Wingrave ist überzeugt, „die Regeln sind falsch“ – er will sich von ihnen befreien, will nach seinen Regeln leben. Unter dem Druck seiner Braut Kate erklärt er sich gegen besseres Wissen sogar bereit, eine Nacht „in einem als Spuk- und Geisterraum bekannten Zimmer zu verbringen“. Ausgerechnet diese berühmt-berüchtigte Mutprobe, ein Element vieler englischer Märchen und Spukgeschichten, nimmt Owen nicht ernst – und überlebt sie nicht. 

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Gary McCann reicht für die Bühnenausstattung des Musikdramas ein großer, von erdrückenden grauweißen Flächen umgebener Raum, dessen Wände leere Bilderrahmen bedecken. Die Figuren sind historisch entsprechend der Zeit gezeichnet, die Atmosphäre in der Familie bleibt äußerlich und innerlich kalt. Die Ahnen und ihre gewichtigen Konventionen und verstaubten Wertvorstellungen sind jederzeit präsent und normieren den Alltag der heute Lebenden – bis hin zum Tod.

Almerija Delic als Kate Julian und Jan Friedrich Eggers als Owen Wingrave - Foto © Jörg Landsberg

Dem jungen niederländischen Regisseur Floris Vissier gelingt es, mit wenigen Mitteln und völlig unspektakulär eine Spannung und Dichte auf die Bühne zu bringen, die dem Zuhörer oft den Atem nimmt. Dabei geschieht eigentlich wenig auf der Bühne. Große Teile der Handlung werden in den Arien und Duetten weitergeführt, sie wirken oft wie gesungene Sprechtexte. Und doch treiben sie eine innere Spannung weiter, die bis zum dramatischen Ende trägt. Erst da zeigt sich – überraschend – die unglaubliche Aktualität dieser Problematik, die ebenso glaubhaft bis zum Selbstmordattentäter reicht.

Wesentlichen Anteil daran hat Brittens Musik. So prägnant und erkennbar zu Beginn der militärische Ton des Alltags in der Militäranstalt durch Bläsersignale und die  immer vorhandene Marschtrommel markiert wird, so charakterisieren mit fortschreitenden Konflikten längere Dissonanzen, langsam entschwindende hohe Tonpassagen und plötzliche heftige Akzente den wachsenden Druck, die zunehmenden inneren Konflikte, denen die Protagonisten ausgesetzt sind. Daniel Inbal und den Osnabrücker Symphonikern gelingt eine oft fühlbare Interpretation der Musik Brittens. Rhys Jenkins´ ruhiger Bariton in der Rolle des Leiters der Militärakademie wirkt wie ein besonnener, ruhender Pol im Gewirr des Konfliktwirrwarrs, gleichwohl bleibt er unverkennbar der Knotenpunkt des Geschehens, in dem sich individuelle wie gesellschaftliche Widersprüche unentwirrbar verhaken. Jan Friedrich Eggers, Bariton, gibt einen in ordentlichen Verhältnissen und allen Konventionen groß gewordenen Owen, dessen eigene Orientierung nahezu jedem anderen problematisch wird. Die Damenrollen einschließlich der zerrissenen Braut Kate wirken in ihren schwarzen Kleidern bei manchem Auftritt wie schwarze Totenvögel, die zwischen Konventionen und eigenen Bedürfnissen orientierungslos umherflattern. Mark Hamman als Großvater mit stahlhartem Tenor erscheint wie eine Figur aus längst vergangener Zeit. Der Kinderchor überrascht mit eindringlichen Passagen. Vissier kann auf jedes Beiwerk einer möglichen Aktualisierung dieses Stoffes aus dem 19. Jahrhundert verzichten, so dicht und nah bleiben die Konflikte, an denen sich die „Emanzipation dieses Individuums“ immer wieder stößt. 

Nachdem das Schlusslicht über dem toten Owen auf der Bühne langsam verlischt und der Vorhang fällt, braucht das Publikum einige Schweigeminuten, um ganz allmählich aus diesem unglaublichen Gewirr des sinnlosen Regelwerkes einer fast leblosen Gesellschaft aufzutauchen und sich dann minutenlang für eine Inszenierung zu bedanken, die kaum jemanden ungerührt nach Hause lässt – Respekt.

Horst Dichanz