Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Alle Fotos © Birgit Hupfeld

Aktuelle Aufführungen

Fleischliche Qualität

LULU – EINE MÖRDERBALLADE
(The Tiger Lillies)

Besuch am
15. Januar 2016
(Deutsche Erstaufführung)

 

 

Theater Oberhausen

Wenn Koproduktionen stets ein solches Ergebnis offerierten – wir würden danach lechzen. Das Theater Oberhausen hat gemeinsam mit der Schauspielgruppe Abattoir fermé aus dem belgischen Mechelen eine Adaption von Frank Wedekinds Lulu produziert. Seit 15 Jahren träumt Stef Lernous, künstlerischer Leiter von Abattoir fermé, davon, eine eigene Interpretation des Stücks auf die Bühne zu bringen, das Susanne Lothar als Lulu in der Inszenierung von Peter Zadek 1988 zum Durchbruch verhalf. „Meinen Inszenierungen versuche ich diese fleischliche Qualität zu geben. Ich finde, dass das Fleischliche im wirklichen Leben oft und im Theater fast verloren geht“, sagt Lernous und beweist in Oberhausen anlässlich der deutschen Erstaufführung, dass es da erheblichen Nachholbedarf gibt. Zugrunde liegt der Inszenierung das Stück Lulu. A Murder Ballad, das als Auftragswerk der Tiger Lillies entstand und im Januar 2014 an der Opera North in Leeds uraufgeführt wurde. Peter Carp, Intendant in Oberhausen, ist stolz darauf, die Rechte dafür erworben zu haben, und überträgt die musikalischen Arrangements einem alten Bekannten. Otto Beatus, aufwändig als musikalischer Leiter am Theater Oberhausen in den wohlverdienten Ruhestand versetzt, kehrt zurück.

Statt dreistündiger, verquaster Aufführungen gibt es in Oberhausen anderthalb Stunden geballter Intensität und Fantasie, die viele, sehr viele andere Regisseure in die Schranken weisen. Lernous‘ kongenialer Zugriff: Seine Lulu ist von Anfang an Opfer – ohne jede Chance. Nackt hängt sie auf einem Ast, der in die Bühne von Sven van Kuijk hineinragt, erinnert sofort an einen Kaspar Hauser. Sie ist zum Objekt degradiert, nimmt keinen wirklich eigenen Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse. Sie ist die Wedekindsche 15-Jährige, die Annäherungen älterer Männer nur bedingt zulässt, Spaß am Leben haben will, ohne groß darüber nachzudenken und den Anschluss an die Gesellschaft schon verloren hat. Lernous lässt sie gleich zu Beginn nackt auftreten, hier aber nicht skandalös – die Zeiten sind eh längst vorbei – sondern als Sinnbild fehlenden Schutzes, der auch nicht gewollt ist, und altersbedingter Sinnfreiheit. Vor der Kulisse einer heruntergekommenen Fleischerei finden sich die bekannten Protagonisten ein, müssen sterben, werden in der Fabrik nach förmlichem Abschied noch einmal hingerichtet, um anschließend als die Geister, die Lulu rief, noch einmal aufzuerstehen. Das alles ist inmitten der Musiknummern drastisch dargestellt, so wie die auf den Punkt gebrachten Kostüme von Marina Sell Caijuerio.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In denen fühlen sich alle Akteure sichtlich wohl. Wie auch Laura Angelina Palacios, die zwischenzeitlich immerhin mal so etwas wie ein Negligé tragen darf. Sie ist ein großartige Lulu. Als Sängerin hat sie den Schluss zu bestreiten und muss sich der Weisung des Regisseurs beugen, dem der Mut fehlt, in der Schlussnummer lyrisch zu werden. So schreit die fabelhafte Hauptdarstellerin herum, dass das überhaupt nicht schlimm war, weil ihr Papa das alles so wollte. Geschenkt. Schwierig genug, den überwiegenden Teil des Abends nackt auf der Bühne zu agieren. Mit „Blut“ übergossen zu werden. Am symbolisierten Kreuz zu stehen. Und keine Chance in dieser Gesellschaft zu haben. Das muss man bringen. Unter den übrigen Schauspielern fällt Moritz Peschke als Alwa mit sauberer Diktion auf. Susanne Burkhard als Shig, Anja Schweitzer als Jack, Thorsten Bauer in der Rolle des Dr. Goll, Elke Weinreich als Schwartz und schließlich Michael Witte als Shunning begeistern mit skurrilen, immer aber glaubhaften Auftritten.

Foto © Birgit Hupfeld

Beatus führt seine führt seine fünfköpfige Band am linken Bühnenrand in einer Art Graben vom Piano aus. Ein manchmal zu mächtiger Sound, ein anderes Mal eine Spur zu einfach gestrickt, begeistert, weil die Musik zwischen Walzer und Blues Lebensgefühl ausdrückt.

Das Publikum im nahezu gefüllten Saal reagiert enthusiastisch. Begeisterungspfiffe unterstützen den anhaltenden Applaus, der in stehenden Ovationen mündet. Zu Recht. Diese Lulu ist der Hit. Und wer sie verpasst, ist selber Schuld.

Michael S. Zerban