Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marcell Rév

Aktuelle Aufführungen

Politische Korrektheit mit Beigeschmack

IMITATION OF LIFE
(Kornél Mundruczò)

Besuch am
3. Juni 2016
(Deutsche Erstaufführung)

 

 

Theater Oberhausen

In dieser Welt der Banalitäten, der formalisierten, leeren Kommunikation, der sinn- und herzlosen Floskeln, des schalen Alltags, der sich sinnlos an den nächsten reiht, ist die Lage von Kontinenten ohne Bedeutung. Da telefoniert eine verzweifelte, nach Auswegen vor der Zwangsräumung suchende, starke, aber auch starrsinnige alte Frau, Lörinc Ruzcó, mit einem gesichtslosen uneinsichtigen Bürokraten, der auf seinem gut gepolsterten Stuhl in seinem Sozialamt, Wohnungsamt, Bürgerbüro … unbeweglich sitzt. Er soll, muss Leute bewegen, damit die Verwaltung ihre Pläne umsetzen kann, von denen man nicht weiß, wem sie nutzen. Frau Ruzcó ist mit der Miete im Rückstand … Fast eine halbe Stunde dauert zu Beginn der Inszenierung von Kornél Mundruczó das Videotelefonat der Frau Ruscó mit diesem Büromonster, und mancher Zuschauer mag sich schon fragen, ob es das war.

Dabei ist dieses Eingangsvideo nur die Ouvertüre zum fortgesetzten Wahnsinn im neuen Ungarn nach 1989. Mit seiner deutschen Erstaufführung hat Mundruczó ein Stück nach Oberhausen gebracht, das in seinem Kampf mit Banalitäten aktueller nicht sein könnte und immer wieder Schmerzen verursacht. Er will zeigen, dass die „Ungarn sich seit Jahrhunderten im Kreis drehen“, und die Schwächeren, die Minderheiten ihren Teil dazu beitragen. Hierzu hat Martón Àgh eine kleinbürgerliche ungarische Stadtwohnung mit all ihrer Enge und Überladenheit auf die Bühne gebracht, die nur eines ausdrückt:  Wer hierin haust, lebt den täglichen kleinen Kampf eines zutiefst banalen Lebens. Wenn dann noch – Spitze der Inszenierung, noch nie gesehen – die Bühne und die Wohnung sich ganz langsam senkrecht um 360 Grad im Kreis zu bewegen beginnt und diese Welt wahrhaft auf den Kopf stellt, wenn Möbel, die Mikrowelle, der Staubsauger, Teller und Tassen aus den Schränken fallen und polternd zu Boden rollen, wenn aus jeder Ecke der Staub, aus den Dosen Mehl, Zucker und Erbsen auf den Bühnenboden rieseln, möchte sich der Zuschauer am liebsten selbst vor diesen Banalitäten des Alltags schützen oder … davonlaufen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Das wachsende Chaos erschlägt nicht nur die Protagonisten, es fragt auf eine subtile, aber treffende Weise nach dem Sinn des Lebens in dieser Welt. Wenn dann die neue Mieterin minutenlang die Fragen des Vermieters beantworten soll, verliert sich der Sinn dieser scheinbar wohl geordneten Welt in der Sinnlosigkeit der Fragen angesichts einer Welt, in der ohnehin das Wasser nicht fließt, der Sicherungskasten nur auf Schlag oder Zureden funktioniert, ja, eigentlich nichts funktioniert, wenn man nicht die nötigen „Schmiermittel“ hinzufügt. Eine Hommage an das neue Ungarn nach 1989 – wohl kaum. Die formale politische Korrektheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Roma unerwünscht, alleinstehende Frauen, noch dazu mit Kindern, Freiwild werden. Wenn dann diese Opfercharaktere „ins Unbekannte hineintaumeln“ und anfangen, sich in ihrer Unterdrückung einzurichten, weiß bald niemand mehr, „was eigentlich woraus folgt“.

Foto © Marcell Rév

Mundruczó hat die sprachlichen Fähigkeiten, das alles nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern völlig beiläufig, fast als Fußnoten zu servieren – und erreicht die Zuschauer so direkt und intensiv, dass die banalen Textpassagen schmerzen.

In diesen gesellschaftspolitischen Rahmen stellt Mundruczó und seine ungarische Gruppe Proton Theater die reale Geschichte eines jungen Roma, der 2005 von einem gleichaltrigen Mann mit einem Schwert ermordet wurde. Der öffentliche Protest, die Erregung über diese Verfolgung einer Minderheit blieb bald allen Kommentaren im Halse stecken, als sich herausstellte: der Täter war selbst Roma. Um dieses gesellschaftspolitische Paradox spinnt Mundruczó eine Interpretation des Arguments zum Schutze von Minderheiten, „die ihre eigene Unterdrückung legalisieren und Opferrollen annehmen“ – eine haarsträubende, aber offenbar real mögliche Sicht, die dem Zuschauer nicht zum ersten Mal begegnet. Auch wenn Mundruczó „schonungslos die neue Realität in Ungarn zeigen“ will, bleiben seine Stilmittel einfach, aber sehr wirkungsvoll. Mit den Schauspielern um Lili Monori als Frau Ruszó und Roland Rába als Mihály Sudár kann Mundruczó sich auf ein Ensemble verlassen, das viele der gespielten Paradoxien aus eigener Anschauung kennt. In kleinen Alltagsdialogen entlarvt er die für viele wohlfeilen Argumente gegen Rassismus und Minderheitenverfolgung als ein Gedankengebäude, das sich im Kreis dreht – wie das Bühnenbild, bei dem das Unterste zuoberst gekehrt wird, und das Chaos sich einnistet. Hier bekommt die „politische Korrektheit“ einen schalen Beigeschmack, Mundruczó will sie als gesellschaftlich „kontraproduktiv“ entlarven.

Ihm und dem Proton Theater Budapest gelingt die Inszenierung eines politischen Zeitstückes von ungewöhnlicher Dichte und Prägnanz. Nach dem Blackout der Scheinwerfer braucht das Publikum einige Minuten, um aus seiner Betroffenheit zu langanhaltendem Beifall für Regie, Bühnenbild und Schauspieler aufzutauchen.

Ob „von Afrika über Asien bis Australien alle hungrig auf die hiesige Kultur sind“, wie das Programmheft aus einem Interview mit Zsolt Bodnár vollmundig zitiert, sei dahingestellt. Dass Mundruczó seine Zuschauer erreicht hat, steht außer Frage.

Horst Dichanz