Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Limitiertes Opernkino

LA FAVORITE
(Gaetano Donizetti)

Besuch am
28. Oktober 2016
(Premiere am 23. Oktober 2016)

 

 

Bayerische Staatsoper München

Im September 1840 erreicht Gaetano Donizetti ein Kompositionsauftrag seitens der Opéra de Paris. Das Handicap: Der Schöpfer der im Februar desselben Jahres uraufgeführten und extrem erfolgreichen Buffa La fille du Régiment soll das Werk in gerade einmal zwei Monaten liefern. Donizetti, der routinierte und äußerst produktive Schreiber, greift auf einen Stoff zurück, den er ein Jahr zuvor in Angriff genommen und wieder verworfen hat. Gleich drei Autoren – Alfonse Royer, Eugène Scribe und Gustave Vaëz – werden engagiert, um eines der im 19. Jahrhundert beliebten historischen Melodramen in ein passables Libretto zu verwandeln. Die Komposition gelingt Donizetti in Rekordzeit. Am 2. Dezember 1840 wird die Uraufführung von La Favorite zu einem Triumph, die Tragödie in vier Akten allein an der Pariser Oper bis zur Jahrhundertwende über 600 Mal aufgeführt. Donizetti, auf dem Zenit seiner Kunst, hat die Vorlieben des großbürgerlichen Pariser Opernpublikums getroffen. Spektakulärster formaler Beleg hierfür: die in der Konvention der Grand Opéra unabdingbare Ballettmusik, die auch auswärtigen Komponisten abverlangt wird, etwa Richard Wagner. Sie ist hier in den dritten Akt als Pas de six integriert und dauert gut zehn Minuten.

Die Regieanweisung im Libretto sieht als Protagonisten der Tanzeinlage „spanische Mädchen und maurische Sklaven“ vor. In der ersten Neuinszenierung der aktuellen Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper verwandelt die Regisseurin Amélie Niermeyer im Verein mit ihrem Team – Alexander Müller-Elmau kreiert die Bühne, Kirsten Dephoff verantwortet die Kostüme – die im Palast des Königs spielende Szene in ein Kino der Jetztzeit. Einfache Stühle, das nicht sonderlich einfallsreiche, generelle Ausstattungselement dieser Produktion, sind in Blickrichtung zum Publikum und zum unsichtbaren Filmprojektor aufgestellt. Auf ihnen fläzt sich völlig ungeniert Alphonse XI., der Herrscher Kastiliens um die Mitte des 14. Jahrhunderts, zum Sound eines Action- oder Westernfilms. Der König in der Attitüde eines Flegels in einer der tristen Vorstädte von heute. Gewandet in einen blauschwarz-gescheckten Anzug, wie er einem Nachtclubbesitzer wohl anstehen würde, nestelt und fummelt der Herrscher an seiner Favoritin Léonor de Guzman herum. Diese trägt einen blauroten Hosenanzug, in dem sie sich vom sonstigen Personal im heutigen Einheitsgrau der Beschäftigten bei Banken und Versicherungen unterscheidet. Seine eher geduldete denn respektierte Maitresse, obwohl von bester Abstammung, behandelt der König – mal unbekümmert jungenhaft, mal brutaler Despot – wie seine sonstigen Untergebenen auch. Niermeyer macht das in einer kurzen Einstellung schmerzlich bewusst, als Alphonse Léonor zur Fellatio nötigt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Spätestens mit dieser Verfremdung ins Ahistorische, Beliebige wird der bereits in den beiden Akten zuvor gewonnene Eindruck vollendet: Eine analysierende, gar deutende Inszenierung bleibt diese Regie schuldig. Schade. Denn La Favorite ist auf dem Hintergrund des Machtkampfs zwischen Krone und Kirche und einer Gesellschaft, der Status alles gilt und Individualität nichts, ein durchaus lohnender Stoff. Ist nicht die Geschichte einer Frau, der Frau, die die ihr oktroyierten Zwänge abzuschütteln und in einer selbstgewählten Liebe ihre Identität neu zu bestimmen sucht, höchst aktuell? Léonor ist wie Violetta oder Manon der Prototyp der gerade im Genre der Oper reflektierten Frau, die im Streben nach Selbstbestimmung scheitert. Der Kontext dieses Scheiterns ist in dieser Sozialtragödie unter Noblen besonders spektakulär. Scheitern andere Donizetti-Figuren wie Lucia im Wahnsinn, flüchtet sich Léonor, mit der einzigen Lösung des Sterbens konfrontiert, in das vermeintliche Heil der Vergebung durch die Kirche. Niermeyer begnügt sich hier mit der Fokussierung des Bühnenbildes auf eine Darstellung Christi am Kreuze. So plakativ wie nichtssagend.

Foto © Wilfried Hösl

Die Bezüge zwischen damals und heute, zugleich Potenziale einer offensiven Regiearbeit, sind dabei absolut greifbar. Fernand, Liebhaber der Favoritin des Königs und zugleich dessen Vertrauter und Günstling, schlägt in der Feldschlacht die gegen Kastilien anrückenden Mauren. Mehr als fünf Jahrhunderte später ist ein neuer aggressiver Fundamentalismus auf der politischen und militärischen Agenda, der die Individualität und in Sonderheit die Emanzipation der Frau und ihre gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft bedroht.

Elīna Garanča, die die Titelpartie erstmals szenisch gibt, verfügt sicherlich über das spielerische Vermögen, das eine ernsthaftere Inszenierung verlangt hätte. So aber bleibt sie auf den undankbaren Part reduziert, in dem Meer der billigen Stühle hin und her zu taumeln, zu Boden geworfen zu werden, sich in endlos gleichen Posen verzehren zu müssen. Das gipfelt in der unglücklichen Haltung im Anschluss an ihre Bravourarie O mon Fernand, als sie in einer merkwürdig geschrägten Pose verharrt, dem Publikum den Rücken und die kalte Schulter zuwendend. Diversen Ondits zufolge ist La Favorite in erster Linie wegen der Garanča in den Münchner Spielplan aufgenommen worden, mehr als 100 Jahre nach der letzten Realisierung dort. Doch das große Belcanto-Glück, das manch einer im Publikum noch aus einstigen Aufführungen mit Marilyn Horne oder Agnes Baltsa verbindet, will sich partout nicht einstellen. Gewiss, Garanča verfügt nach wie vor über einen prägnanten Mezzo mit weitreichender Tessitura, technischer Klasse, vokaler Intensität und emotionaler Hingabe. Das warme subtile Leuchten  in der Tiefe indes, das etwa ihren Sesto in Mozarts Titus in Berlin 2009 auszeichnete, ist ihrer Stimme nicht eigen, zumindest an diesem Abend. Limitiertes Opernglück sozusagen. Das Münchner Publikum, an große Namen gewöhnt, scheint das freilich nicht groß zu stören. Es überschüttet seine Favoritin mit großem, anhaltendem Jubel.

Diesen Jubel, noch potenziert, heimsen schlussendlich auch die beiden Männerdarsteller in den Hauptpartien ein, die ihre Rollendebüts geben. Allen voran Matthew Polenzani als Fernand, begnadet mit einer Tenorstimme wie geschaffen für ein perfektes Musikdrama im Stile der Grand Opéra. Der Amerikaner ist zwar von Intendant Niklaus Bachler zu Beginn als ein Stück weit indisponiert avisiert worden. Doch scheint diese Vorsichtsankündigung nicht wirklich vonnöten. Polenzani agiert auch spielerisch gern und agil, bewegt sich souverän und unbeirrt durch die Anforderungen dieser Virtuosität im Höchstmaß verlangenden Partie. Scheinbar anstrengungslos klettert seine Stimme in die höchsten Höhen wie in die tiefsten Klüfte des vokalen Donizetti-Gebirges. Schon frappierend, wie er mit einem Piano fesselnder Ausdruckskraft das Auditorium zum gebannten Schweigen bringt. Einfach grandios, wie seine Stimme aus der versammelten Pause, die so fast zum Ereignis wird, an Volumen und Brillanz gewinnt, diese noch steigernd. Wie Polenzani im Schlussakt sein Lamento Ange si pur angeht, ihre extrem lyrische Linie aussingt und am Ende quasi aushaucht, ist ein wirklich großer Moment dieser Aufführung und wohl auch wegweisend für die weitere, nur nach oben weisende Karriere.

Souverän erfüllt der Bariton Mariusz Kwiecien  als Alphonse die Ansprüche dieser Rolle und wohl auch die Erwartungen des Publikums, die zumindest seit seinem Don Giovanni im Nationaltheater eine feste Größe sein dürften. Spielerisch auf dem qui vive, verlegt er sich mit Vehemenz auf die Vielfalt dieser Rolle, die das gesamte Spektrum von der spitzbübischen Lässigkeit bis hin zur kalten Arroganz der Macht umfasst. Mika Kares avanciert als Balthazar mit prächtigem Bass zu einer der angenehmen Überraschungen des Abends, was sich auch das Auditorium mit freudigem Beifall anmerken lässt. Der schließt in den weiteren Rollen die sehr lebendige Elsa Benoit in der Partie der Inès sowie Joshua Owen Mills als Don Gaspard ein.

Mit Empathie aus dem weiten Rund werden ferner das Staatsorchester und der Chor der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Karel Mark Chichon bedacht. Es gelingt ihm, die Belcanto-Stimmung dieser Grand Opéra zu erspüren und auszukosten, agiert als Kapellmeister im besten Sinne, ohne dabei etwa Charisma erkennen zu lassen.

Eine große, aber nicht ganz große Opernaufführung, wie gesagt. Alle weiteren Vorstellungen von La Favorite sind laut Bayerischer Staatsoper ausverkauft. Die Aufführung am 6. November kann jedoch als Livestream kostenlos verfolgt werden. Eine Chance auf jeden Fall für jeden, der sich einen eigenen Eindruck verschaffen möchte.

Ralf Siepmann