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Kulturmagazin mit Charakter

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Requiem des Alltags

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgsky)

Besuch am
24. April 2016
(Premiere am 13. Februar 2013)

 

 

Bayerische Staatsoper München

Gemächlich, nahezu unmerklich bewegt sich ein massiger Tanker in die Bühnenmitte. Hermetisch abgeschlossen prallen die Molotowcocktails von der rostigen Außenwand, erst spät öffnet sich der Herrscherbunker, drinnen mondäner Schick im Versteck des korrumpierten Zaren. In diesem goldenen Versteck waltet er, spricht zum Volk, hadert, dann schließt sich die Machtzentrale wieder, und der Monarch sitzt in seinem unrecht errungenen Käfig.

Eindrucksvoll und als Sinnbild dieser modern durchdachten Inszenierung zeigt sich Rebecca Ringsts Bühnenskulptur, die sich zum Applaus wieder langsam schließt. Von drei Seiten bespielbar mit klugen Klappeffekten ausgestattet, gelingt eine Metapher für den isolierten, misstrauischen Godunow, der am Makel des Königsmordes zugrunde geht. Verantwortlich für die harte, ungeschönte Lesart zeigt sich Calixto Bieito, der Puschkins Historienstoff postwendend und sinnig in die Gegenwart holt. Die Volksmasse huldigt mit Pappfähnchen dem Monarchen, bis diese abreißen. Hier wird mit Hirn inszeniert. Elegant und verstörend zugleich richtet ein kleines Mädchen sanft die schallgedämpfte Waffe auf den Gottesnarren, Fjodor spielt wie ein baldiger großer Diktator mit der Weltkugel, seine Schwester ist modernes, reiches Mädchen, süchtig und kaputt. Bieito scheut die Hässlichkeit ebenso wenig wie Grausamkeit. Menschen werden getreten, bullige Sicherheitskräfte schwenken die Zarenflagge, Blut fließt und Grigorij scheut den kaltblütigen Mord der kompletten Godunow-Sippe am Ende nicht.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Als Requiem des Alltags bezeichnete der etablierte Opern- und Schauspielmann Mussorgskys Ur-Boris, der in München gespielt wird. Der oftmals sakralen Musik setzt er ästhetischen Realismus entgegen. Er dekonstruiert die Macht und den Mächtigen, den er ganz privat, schwach und an seinen Zweifeln zerbrechend, eindrücklich zeigt. Ähnlich wie bei seinem Kirschgarten am Residenztheater reißt er dafür die Bühne ein, führt klug die Kräfte und liefert zwei pausenlose, ernste und durch die großen Tableaus lange in Erinnerung bleibende Momente. Dabei hilft das sensationelle Licht von Michael Bauer, dass die nebelschwangere Bühnenluft in grausige Blendstimmungen versetzt.

Foto © Wilfried Hösl

Boris wird in der Königsloge besungen, adrett von Ingo Krügler in moderne Staatsmannskleidung gesteckt. Der Chor steht an der Rampe, dadurch gerät das Publikum ins Zentrum des schnell wechselnden Volkswillen. Grigorij ist Kriegsberichterstatter, Schuiskij knallharten Oligarch mit blutigen Händen. Die Kritik an fast aktuellen Oligarchen lässt sich der Moralist unter den Opernregisseuren dabei nicht nehmen. 2013 aktuelle Staatsoberhäupter zwischen Putin, Berlusconi und Blair werden als Zarenköpfe auf Transparenten geschwungen. Die hätte man zur Wiederaufnahme erneuern können.

Teilerneuert auch die Besetzung, doch glücklicherweise kehrt Alexander Tsymbalyuk als Boris zurück. Mit physischer Präsenz überzeugt er als Machthaber ebenso wie als Seelenkrüppel, der zuletzt unter dem Konferenztisch seiner Schaltzentrale kauert. Stimmlich veredelt er die lyrischen Selbstgespräche mit scharfem, nie angestrengtem und auch beim Redenschwingen vollmundigem Bass. Noch nuancierter geht Ain Anger an seinen Pimen heran. Der alte Chronist klingt liedhaft präzise, spielerisch ins samtene Piano wechselnd und dabei luxuriös verzierend. Dünner und hellicht heuchelnd dagegen bleibt Sergey Skorokhodov stimmlich wie spielerisch als Grigorij blass. Voluminöser und abgründiger klingen da die Täter Maxim Paster als Schuiskij und Boris Pinkhasovich als Schtschelkalow, die ähnlich ihrer Namen in ihrer Muttersprache überzeugen, während sich Kevin Connors erneut im Russischen als Gottesnarr eine Publikumslieblingsrolle stimmig und stimmlich erkämpft. Mit dem ringend, doch obsiegend erfreut Vladimir Matorin als trinkliedsingender Warlaam.

Mondän freilich der vergrößerte und klangvolle Chor unter Sören Eckhoff, der Volkes Willen eindrücklich und sakral verklärt in den stärksten Momenten verkörpert. Jugendlich und eher sinfonisch aufgestellt, gelingt Vasily Petrenko ein stimmiges Hausdebüt. Die Zarenfanfaren klingen ebenso prächtig wie die leisen Rezitative etwa bei der Zwiesprache zwischen Boris und Gottesnarr. Der Dirigent hilft den Sängern im komplexen Libretto ebenso wie in den Arien. So verfliegen vier Bilder, zwei Stunden und eine aktuelle, gut und handwerklich versiert erzählte Geschichte, der Tank schließt sich, ein neuer ebenso korrupter Herrscher steht darin und wenig wird sich ändern in einem machtkranken, unmoralischen und von Unmenschen regierten Russland.

Die Oper aber erlöst sich mit motiviertem, freundlichem Applaus für Dirigat und durchwegs edle Besetzung.

Andreas M. Bräu