Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © JU/Ruhrtriennale

Aktuelle Aufführungen

Moussa, der gesichtslose Araber

DIE FREMDEN
(Vasco Boenisch, Tobias Staab)

Besuch am
2. September 2016
(Uraufführung)

 

Ruhrtriennale,
Zeche Auguste Victoria, Marl

Auch die zweite große Eigenproduktion der Ruhrtriennale hat sich Intendant Johan Simons nicht nehmen lassen. Nach Glucks Alceste zum Auftakt führt Simon auch Regie bei der Uraufführung des Musiktheaters Die Fremden, das sich freilich eher wie ein Sprechtheater mit Musik präsentiert. Gemäß dem Motto „Seid umschlungen“ hat er sich mit der Adaption zweier Romane auf die Spuren der französischen Kolonialpolitik in Algerien begeben und Verknüpfungen zur aktuellen Flüchtlingspolitik herstellen wollen.

Als „politisches Musiktheater“ will Simon seine neueste Kreation verstanden wissen. Die Fremden heißt das 100-minütige Werk, orientiert an Albert Camus‘ berühmtem Roman Der Fremde aus dem Jahr 1942 oder besser noch an Kamel Daouds erfolgreiche, vor drei Jahren erschienene Replik Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung, was die ganze Sache noch komplizierter erscheinen lässt. Was Simons Inszenierung in der ehemaligen Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl vor allem beweist, ist die nicht überraschende Tatsache, dass sich der Stoff weder aus der Perspektive von Camus noch der von Daoud für eine musiktheatralische Umsetzung eignet.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Simons bemüht deshalb die Klaviatur multimedialer Spielereien, vernetzt Textstellen beider Romane miteinander, steuert Videoeinblendungen bei, streut Musikstücke von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti ein, lässt monologisieren und dozieren und treibt die fünf Schauspieler zu etlichen Dauerläufen und abstrakten gymnastischen Übungen an. Beeindruckend immerhin, wenn sich die Leinwände emporheben und den Blick auf die über 100 Meter reichende Tiefe der Halle freigeben. Mit dem Nachteil, dass die Figuren die Größe von Ameisen annehmen und selbst die 15 Musiker des fabelhaften Asko-Schönberg-Ensembles unter der Leitung von Reinbert de Leeuw zu einem kleinen Fels in einer schier grenzenlosen Wüstenlandschaft schrumpfen.

Foto © JU/Ruhrtriennale

So entsteht eine Gratwanderung zwischen Dokumentation, philosophischem Exkurs und ästhetischer Verbrämung, die in dieser Mischung keine klare Haltung zum Kernproblem erkennen lässt.

Der algerische Journalist Kamel Daoud hat sich in seiner Gegendarstellung dagegen verwehrt, dass Camus den Mord Meursaults an einem Araber lediglich aus der Perspektive des französischen Täters reflektiert und dem Opfer Namen und Gesicht verweigert. Das schwirrt nur als anonymer „Araber“ durch den Roman. Daoud erdichtete einen Bruder des Ermordeten hinzu, der die Tat an seinem jetzt Moussa genannten Bruder aus großer zeitlicher Distanz berichtet. Ein Seitenhieb gegen die koloniale Arroganz westlicher Mächte, der sich selbst Camus offenbar nicht ganz entziehen konnte. Entsprechend herb und schroff werden in Marl Zitate aus Camus‘ Vorlage rezitiert.

Freilich gelingt es auch Simons mit seiner Version nicht, dem toten Moussa ein Profil zu verleihen. Moussa tritt selbst nicht auf, und die Rolle seines Bruders teilen sich, eher verwirrend, gleich fünf Darsteller. Gegenüber der mit religionskritischen Attacken und politischen Erklärungen vollgestopften Text-Collage von Vasco Boenisch und Tobias Staab verblasst das Opfer vollends. Es erhält zwar einen Namen, aber kein Gesicht. Dafür werden die westlichen Schauspieler viel zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes schlechtes Gewissen aufzuarbeiten. Video-Einblendungen aus ehemaligen und heutigen Flüchtlingslagern erinnern daran, wirken aber auch recht belehrend.

So brillant die Musiker des Amsterdamer Asko-Schönberg-Ensembles auch Kagels Stücke der Windrose und Ligetis Kammerkonzert präsentieren. Den Klängen kommt in diesem Umfeld allenfalls dekorative Bedeutung zu. Und so bestrickend schön Claude Viviers Bouchara von der Sopranistin Katrien Baerts gesungen wird. Mit dem dadaistisch sinnfreien Text trägt die kleine Solo-Kantate nicht das Geringste zum Verständnis des kopflastigen Abends bei.

Dennoch viel Beifall für eine problematische Auseinandersetzung mit einem Stück überladener Kolonialkritik.

Pedro Obiera