Opernnetz

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Aktuelle Aufführungen

Die Mechanismen fanatischer Ideologien

LA JUIVE
(Fromental Halévy)

Besuch am
10. Januar 2016
(Premiere)

 

 

Nationaltheater Mannheim

Wer auch immer schon das Gefühl hatte, für den Besuch einer Grand Opéra wegen der gefühlten Länge eine zweite Lebenszeit mitbringen zu müssen, sollte sich diese Produktion ansehen. Nicht nur strafft Regisseur Peter Konwitschny die Handlung in ein von Solisten und Chor packend gespieltes Kammerspiel unter wohltuender Weglassung allen überflüssigen Beiwerks auf rund drei Stunden, sondern vermag außerdem im Wege der Abstraktion das hochaktuelle Thema der religiösen und politischen Fanatisierung spannend auf den Punkt zu bringen.

Die Textvorlage der 1835 uraufgeführten Oper La Juive von Fromental Halévy stammt aus der bewährten „Fabrik“ von Eugene Scribe, der seinerzeit solcherlei Vorlagen wie am Fließband produzierte und den Stoff ursprünglich Meyerbeer angeboten hatte, der jedoch ablehnte, vermutlich, weil er mit anderen Kompositionen beschäftigt war.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Handlung vereint nicht ganz unbekannte Muster der Engführung politischer und religiöser Ideologisierung und Fanatisierung mit dem Schicksal von Individuen, hier Vätern zweier ermordeter Söhne und einer tot geglaubten Tochter sowie eines durch die vermeintliche Grenze der Religion nicht zueinander gelangenden Liebespaares. Verdis Troubador ist nur eines der vergleichbaren Szenarios, die einem in den Sinn kommen.

Foto © Hans Jörg Michel

Konwitschny vermeidet jede Konkretisierung auf aktuelle Geschehnisse, vielmehr lässt er die handelnden Personen der sich bekämpfenden Lager – hier gemäß der Handlung der christlichen und jüdischen Religionen – lediglich als Gruppen mit gelben und blauen Händen auftreten. Es gibt keine weiteren Differenzierungen, die auf glaubensspezifische Details verweisen.

Im Gegenteil: Ein von der jüdischen Protagonistin in höchster Not als Drohung getragener Sprengstoffgürtel versinnbildlicht hier extremes menschliches Handeln unter Bedrohung, kein arabisches oder sinnwidrig jüdisches Verhalten. Ebenso wie in einer der großen Ensembleszenen Solisten und Chor mit diesmal diversen, verschiedenfarbigen Händen wie in einem Racheritual mechanisch Sprengstoffgürtel zusammenbauen. Die Szene erhält durch die rhythmische Komponente der Musik und das straffe Spiel aller Protagonisten ein physisch spürbares Bedrohungspotential, ohne jedoch einer spezifischen Religion oder politischen Gruppe zugeordnet werden zu können.

Diese an Brecht geschulten Parabelbilder transportieren ihre Wirkung als Sinnbild nachgerade unentrinnbarer menschlicher Verhaltensweisen im Bereich der individuellen und kollektiven Macht- und Gewaltmechanismen. Das ist das Gegenteil platter Aktualisierung. Gleichwohl zwingen sich dem Zuschauer die Medienberichte der letzten Monate auf, die genau die Auswirkungen dieser Verhaltensweisen in unserer Welt von heute zeigen. Die Bühne versinnbildlicht also die zugrundeliegenden Prozesse, der Zuschauer entwickelt selbst die aktuellen Bilder und Bezüge dazu – ein echter Konwitschny.

Alle Beteiligten spielen mit höchster und zum Teil beklemmender Intensität, wobei zeitweise sowohl Solisten als auch der Chor mitten im Publikum positioniert werden, was die Spielintensität und -wirkung noch steigert. 

Die kongenialen Bühnenbilder des Konwitschny viele Jahre begleitenden Johannes Leiacker, das Licht von Manfred Voss und nicht zuletzt die bewährte Dramaturgie von Bettina Bartz tragen diese Produktion hervorragend mit.

Die Rachel der Astrid Kessler ist auf der Bühne das Ereignis des Abends. Nicht nur wird sie stimmlich der Rolle mehr als gerecht, vielmehr überzeugt Kessler auch in intensivstem Spiel, mit dem sie die Wechselbäder der Emotionen als in vielfacher Hinsicht verratene Frau durchleidet. Schauspielerisch ergreift sie ebenso, wenn sie, mitten im Zuschauerraum positioniert, die utopische Vorstellung der Flucht mit Leopold  genervt und kritisch „aus der Rolle fallend“ sprachlich kommentiert.

Eindrucksvoll das Duett mit Estelle Kruger als Princesse Eudoxie, in dem die beiden Frauen für einige utopische Momente im vierten Akt ihre politischen und gesellschaftlichen Zwänge vergessen und sich in nachgerade kindlich-freundschaftlicher und selbstvergessener Haltung begegnen. Kruger zeichnet die Entwicklung einer zunächst recht unbedarften, gefallsüchtigen jungen Frau zu einer durch Leiden wachsenden Persönlichkeit. Sie vermag stimmlich und darstellerisch ebenfalls voll zu überzeugen.

Zurab Zurabishvili gibt den Juif Eleazer mit großer Stimme und darstellerisch berührend, wenngleich die Stimme sich im ersten Teil des Abends erst freisingen und in den tieferen Registern dynamisch entwickeln muss. Sung Ha als störrischer Cardinal Brogni überzeugt durch darstellerisch und gesanglich außerordentliches Engagement und machte die Zweifel und Nöte eines im Konflikt zwischen Politik und seiner vermissten Tochter stehenden Vaters deutlich. Leopold des Juhan Tralla und der Ruggiero von Joachim Goltz rundeten das sehr gute Ensemble ab.

Der Chor unter der Leitung von Francesco Damiani fügt sich in jeder Hinsicht mit größtem spielerischen Einsatz in das Geschehen. Gruselig die Momente, in denen das Volk sich über die Verurteilungs- und Racheakte nachgerade lüstern mokiert. Auch der Chor ist zeitweise im Zuschauerraum, mitten zwischen den Besuchern, positioniert.     

Das Orchester des Nationaltheaters unter Alois Seidlmeier verfolgt wachsam und pointiert den Dynamiken der Partitur und korrespondiert auf das Engste mit dem spannenden Spiel auf der Bühne.

Das Publikum applaudiert lang und herzlich dem gesamten Ensemble mit besonders viel Bravorufen für Astrid Kessler.

Man kann dem Nationaltheater Mannheim zu dieser Produktion nur gratulieren, die in Zusammenarbeit mit der Kunsthuis Opera Vlaanderen in Belgien zustande gekommen ist.   

Achim Dombrowski