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Knapp drei Jahre nach der grandiosen Premiere von Don Pasquale steht in Leipzig wieder eine Donizetti-Oper auf dem Spielplan, mit Lucia di Lammermoor dabei ein Klassiker des Belcanto und gleichzeitig eine der Spezialopern für Koloratursoprane. Überdies ist es mal wieder ein Abend der Debütanten, denn für das ganze Ensemble, einschließlich Regisseurin Katharina Thalbach, ist es eine Premiere im wahrsten Sinne des Wortes, auch wenn die Oper Leipzig auf bewährte Sänger zurückgreift.
Und für Anna Vivrolansky ist die Rückkehr nach Leipzig nach ihrer großartigen Norina in der Titelrolle der Lucia etwas ganz Besonderes, und die Vorfreude auf dieses Rollendebüt dieser Ausnahmekünstlerin in Leipzig war groß. Umso dramatischer die Meldung zwei Tage vor der Premiere, dass Vivrolansky sich bei einem Bühnenunfall einen Bänderriss zuzog und die Premiere so nicht singen konnte. Normalerweise wäre jetzt in jedem Opernhaus die große Hektik ausgebrochen, kurzfristigen Ersatz zu finden, was natürlich sehr schwierig ist, denn die anspruchsvolle Rolle der Lucia in den Endprobenumzubesetzen, hätte das ganze Ensemble vor größte Herausforderungen gestellt. Und da bedarf es wohl des Genius‘ und des Improvisationstalents einer Katharina Thalbach und dem eisernen Willen einer Anna Vivrolansky, trotz dieses Handicaps die Premiere zu retten und den Vorhang hochgehen zu lassen. Die beiden entschließen sich zu einer ungewöhnlichen Lösung. Virovlansky singt die Partie aus einem Rollstuhl und wird dabei von Katharina Thalbach unterstützt, die als Lucias verstorbene Mutter Virovlansky durch den Abend begleitet und sie im Rollstuhl über die Bühne führt.
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Das bedeutet nicht nur eine kurzfristige Umdisponierung der Regie, der Auf- und Abgänge, sondern auch eine zusätzliche physische Belastung für Sopranistin Virovlansky, denn physiologisch ist das Singen im Sitzen schwieriger und anstrengender als im Stehen. Und vielleicht sind es genau diese Konstellationen, die den Abend dann zu einer Sternstunde des Belcanto und des dramatischen Ausdrucks werden lassen.
Der tragische Belcanto-Klassiker Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti erzählt die Geschichte zweier Liebender, die durch eine Familienfehde aufgerieben, in den Wahnsinn und letztendlich in den Tod getrieben werden. Die Konstellation erinnert an Shakespeares Romeo und Julia: Lucia lebt gemeinsam mit ihrem Bruder Enrico auf dem unrechtmäßig erworbenen Schloss Ravenswood. Enricosteht gesellschaftlich unter Druck und möchte seine Schwester zur Wiederherstellung seiner eigenen Reputation günstig verheiraten. Doch Lucialiebt ausgerechnet den Erzfeind der Familie, Edgardo di Ravenswood, und die schottischen Adelsfamilien, denen sie angehören, sind seit Urzeiten verfeindet. Als Edgardo außer Landes ist, nutzt Lucias Bruder Enrico die Abwesenheit des Feindes und macht die eigene Schwester zum Instrument seiner Interessen. Sie soll den reichen Lord Arturo Bucklaw heiraten, um den Wohlstand der Familie zu sichern. Nach der erzwungenen Hochzeit kommt es schließlich zu einer tragischen Bluttat, Lucia ersticht im Ehebett ihren Gemahl, verliert den Verstand und ihr geliebter Edgardo tötet sich voller Verzweiflung selbst.
Katharina Thalbach hat sich intensiv mit der Romanvorlage von Walter Scott beschäftigt, entführt das Publikum in die Weiten Schottlands und stellt in ihrer Inszenierung die Gefühle und Beziehungen der Protagonisten zueinander in den Mittelpunkt. Der Tragik der Oper stellt Thalbach wunderbar subtil auch humorvolle Elemente gegenüber. Es beginnt schon mit dem Bühnenvorhang, der eindrucksvoll gemalt ein schottisches Hochland mit Nebel, Moor und einer verfallenen Burgruine zeigt, ein wildromantisches Bild, das neugierig macht auf das, was kommt. Und Thalbach wäre nicht sie selbst, wenn da nicht auch etwas Augenzwinkern in der Inszenierung dabei wäre. Nach der Verletzung von Virovlansky verkleidet sie sich als Geist der verstorbenen Mutter der Lucia und schiebt als Schreckgespenst die gehandicapte Anna im Rollstuhl über die Bühne. Und so absurd es klingt, es passt wunderbar zum verletzlichen Charakter der Lucia, ihrer fragilen Persönlichkeit. Und Thalbach hat intensiv mit Virovlansky am Ausdruck gearbeitet. Die Wandlung von der liebenden, schwachen Frau zu einer dem Wahnsinn verfallenden Mörderin, die mit eiskaltem Lächeln und unschuldigem Augenaufschlag blutüberströmt nach der Bluttat von der Hochzeit mit ihrem Geliebten träumt, das ist hohe Kunst. Und so steht die Charakterisierung der Protagonisten im Vordergrund. Lord Ashton als grausamer, nur seinen Vorteil in den Vordergrund stellender Bruder der Lucia, Edgardo als feinfühliger und leidenschaftlicher Geliebter der Lucia, und Lord Bucklaw als aalglatter Gesellschaftsbeau, der Lucia mehr als Jagdtrophäe ansieht.
Das Bühnenbild von Momme Röhrbein spiegelt in einer Mischung aus abstrakten Räumen und naturalistischen Landschaftsbildern das Seelenleben der Figuren wider. Im Zentrum ein neutraler, dunkler Raum als Grundbild, im Hintergrund die wilde Landschaft der Weiten Schottlands, die als romantische Zitate ständig wiederkehren. Kleine Zwischenvorhänge und Veränderungen weniger Requisiten ändern Ort und Zeit auf der Bühne. Die Nähe zu Walter Scotts Schottland im ausgehenden 17. Jahrhundert findet sich nicht nur im Bühnenbild, sondern auch in den Kostümen von Angelika Rieck wieder. Bei den Herren dominieren Kilt, Dolch und hohe Stiefel, und auch die Damen sind entsprechend traditionell gekleidet. Thalbach liebt Männerbeine, das hat sie in Interviews mehrfach betont, und so wird auch viel Männerbein auf der Bühne gezeigt. Insgesamt ist die Bühne eher in ein dunkles, schauriges Licht getaucht, für die leichten Gruseleffekte sorgt Michael Fischer mit einer gut auf die Musik abgestimmten Lichtregie.
Eingebettet in dieses romantische Szenar spielt sich dann musikalisch ein begeisterndes dramma lirico ab, so die Bezeichnung für diese Oper. Allen voran Vivrolansky in der Titelpartie. Sie macht aus dem Handicap ihrer Verletzung eine Tugend, konzentriert sich auf den musikalischen Ausdruck, und da setzt sie auch für die Oper Leipzig einen neuen Maßstab. Mit leichtem Stimmansatz bewältigt sie mühelos die Koloraturen und die dramatischen Höhen, Registerwechsel und Tessitura sind bei ihr perfekt angelegt. Höhepunkt ist natürlich die Wahnsinnsarie, die sie mit großem stilistischem Ausdruck interpretiert und dabei bekannte Vorbilder vergessen lässt. Und das alles in hockender Stellung, weil sie nicht gehen kann, eine physische wie mentale Energieleistung. Ihr rührender, schmerzvoller Gesang, der ihre zerstörte Seele zeigt, mit dem unschuldigen Ausdruck eines Engels, das ist die ganz hohe Schule der Kunst. Auch ihre Mitstreiter bleiben da nichts schuldig. Mathias Hausmann als Lucias intriganter Bruder Enrico begeistert mit kraftvollem und doch schmeichelndem Bariton sowie intensivem Spiel, während Antonio Poli als Lucias Geliebter Edgardo mit seinem wunderbar lyrischen Tenor das Publikum verzaubert, das ist Belcanto-Gesang im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auch die kleineren Rollen stehen in ihrer Leistungsstärke in nichts nach und komplettieren ein in jeder Hinsicht stimmharmonisches Ensemble. Sejong Chang mit seinem markanten Bass als Raimondo, Sergei Pisarev mit schlankem Tenor als Lord Bucklaw, Dan Karström mit Charaktertenor als Normando und Sandra Janke mit warmem Mezzosopran als Alisa.
Der Chor der Oper Leipzig, hervorragend von Alessandro Zuppardo eingestellt, überzeugt wieder einmal durch eine beeindruckende Stimmharmonie und engagiertes Spiel. Anthony Bramall, Stellvertretender Generalmusikdirektor an der Oper Leipzig, ist so etwas wie der Experte für Belcanto-Opern. Bramall lässt das Gewandhausorchester einen leichten, aber intensiven Donizetti spielen. Und gerade diese Leichtigkeit aus dem Graben auf die Bühne und ins Publikum zu transportieren, ist eine Spezialität des Dirigenten. Er wechselt die Tempi, um Emotionen zu wecken, und das passt punktgenau zu den düsteren und dramatischen Momenten der Inszenierung. Die Soloflöte, die Anna Virovlansky in ihrer Wahnsinnsarie begleitet, wird meisterlich gespielt von Katalin Stefula, genauso wie das Harfenspiel von Gabriella Victoria. Eine insgesamt überzeugende Leistung des Gewandhausorchesters, das wieder einmal gezeigt hat, dass es nicht nur das große romantische und dramatische Repertoire von Wagner und Strauss beherrscht.
Das Publikum ist am Schluss nach zweidreiviertel Stunden Aufführungszeit restlos begeistert, es gibt lautstarken Jubel für alle Protagonisten, einschließlich des Regieteams. Als zum Schluss Virovlansky, die schon während der Vorstellung großen Szenenapplaus erhalten hat, von Thalbach im Rollstuhl auf die Bühne geschoben wird, reißt es das Publikum förmlich von den Sitzen. Der tosende Beifall und die stehenden Ovationen gelten einer Ausnahmekünstlerin, die an diesem Abend über ihre Grenzen gegangen ist. Und Katharina kann selbst ihr Glück über diesen Premierenjubel kaum fassen, sie küsst und herzt ihre Anna.
Doch was passiert, wenn Anna Virovlansky ihren Bänderriss ausgeheilt hat? Hat der Rollstuhl dann ausgedient? Werden spätere Vorstellungen dann „normal“ über die Bühne gehen? Man möchte Thalbach fast zurufen, „lass es bitte so“. Denn die Improvisation, aus der Not geboren, entpuppt sich als ein Glücksfall für die Inszenierung und für die Oper Leipzig.
Andreas H. Hölscher