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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Tragisch bizarre Liebesgeschichte

DRACULA
(Frank Wildhorn)

Besuch am
16. April 2016
(Premiere)

 

 

Musikalische Komödie der Oper Leipzig

Es ist ein auffällig junges Publikum, das sich neben den älteren Operetten-Stammgästen gemeinsam in der Musikalischen Komödie der Oper Leipzig einfindet. Dracula, schon der Name zieht einen magisch an. Jeder verknüpft Erinnerungen mit dieser Gestalt. Sei es der Roman von Bram Stroker, seien es die diversen Verfilmungen. Allen gemeinsam ist der wohlige Schauer des Grusels, den der dunkel bizarre Fürst der Finsternis bei einem auslöst, wenn er seine Zähne in den Hals seines Opfers schlägt und das Blut, den Lebenssaft, in sich aufnimmt. Insofern ist die Erwartungshaltung an ein modernes „Grusical“ auf der Bühne groß, und die Spannung auf das zu Erwartende ist greifbar.

Der amerikanische Komponist Frank Wildhorn, der seit seinem Erstlingswerk Jekyll&Hyde auch in Europa zu den großen Musical-Komponisten unserer Zeit zählt, hält sich eng an den berühmtesten Vampir-Roman der Welt, den der irische Schriftsteller Bram Stoker 1897 veröffentlichte. Auch im Musical wechseln die Schauplätze zwischen einem alten Schloss in den Karpaten und dem viktorianischen Ambiente Londons. Die spannende Handlung um den Grafen Dracula und seinen Gegner, den versierten Vampirjäger van Helsing, zieht das Publikum immer wieder in ihren Bann:

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Eine tragische jahrhundertealte Liebe hat den Grafen Dracula, erst zu einem blutsaugenden Monster gemacht. Seine große Liebe Elisabetha, die er schon vor über 400 Jahren verloren hat, wurde als Selbstmörderin von der Kirche verstoßen. Deshalb hat er sich gegen die Kirche aufgelehnt und vom Glauben abgewendet. Bei allem Bösen hat er geschworen, das Kreuz zu bekämpfen. Deshalb kann er nicht sterben, muss als Untoter Höllenqualen ertragen. Nur die Gier nach Blut stillt sein Verlangen für einen Moment.

Foto © Tom Schulze

Auf der Suche nach frischem Blut verlässt Dracula nach hunderten von Jahren die Berge Transsylvaniens, um bald darauf in London Angst und Schrecken zu verbreiten, denn hier, in der Anonymität der großen Metropole, drohen die ahnungslosen Menschen seiner überwältigenden, aber tödlichen Verführungskunst zu verfallen wie einer Droge. Besonders auf junge Frauen übt der geheimnisvolle, einsame Mann eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Die brillante Verführungskunst des Fürsten der Finsternis und seine unzähmbare Begierde nach Blut machen den Jäger zum Gejagten.

Als ihm in der Figur der Mina Murray quasi die Wiedergeburt seiner großen Liebe Elisabetha erscheint, und Mina sich auch zu ihm hingezogen fühlt, erkennt er, dass er sie nicht auch in den Teufelskreislauf der Gier nach Blut hineinziehen darf. Zum ersten Mal entwickelt der kalte Fürst menschliche Gefühle und für diese eine, die er liebt, ist er bereit, seine Unsterblichkeit zu opfern. Er gibt sie frei und weiß, dass er durch sie erlöst werden kann.  Am Ende siegt die Liebe und erlöst ihn schließlich von dem Fluch, ewig sein Unwesen als Vampir treiben zu müssen. Mina tötet ihn und gibt ihm dadurch den ewigen Frieden.

Wildhorn hat dieses Musical, zusammen mit Don Black und Christopher Hampton, die für die Gesangstexte verantwortlich sind, 2004 mit großem Erfolg am Broadway herausgebracht. Sein Musikstil schwankt zwischen symphonisch-klassischem Musical à la Phantom der Oper bis hin zur Rock-Oper Rocky Horror Show. Die größten musikalischen Momente sind zweifelsohne seine balladenartigen Songs, die große Gefühle erzeugen und als Stilmittel den Protagonisten wie ein Leitmotiv eine besondere Persönlichkeit zuordnen. Insbesondere Dracula wird hier nicht nur als böses mordendes Monster dargestellt, sondern als eine bemitleidenswerte Kreatur, die sich nach Erlösung sehnt.

Regisseur Cusch Jung stellt genau diesen Seelenkonflikt in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Natürlich erfüllt Dracula zunächst die Erwartungshaltung des Publikums und verbeißt sich, begleitet von drei sehr ansehnlichen weiblichen Vampiren, in den einen oder anderen Hals und stillt sein Verlangen nach Blut, weil er nicht anders kann. Er ist ein Getriebener, aber kein Monster. Er ist intelligent und weiß um die Konsequenzen seines Handelns. Erst die Begegnung mit Mina, die für ihn die Wiedergeburt seiner großen Liebe Elisabetha ist, ändert alles für ihn. Diese Beziehung zwischen Dracula und Mina arbeitet Jung detailliert aus und stellt sie in den Vordergrund. Alle anderen Personen sind Rahmenhandlung und Ergänzung. Jung arbeitet mit grandiosen Videoproduktionen von Karl-Heinz Christmann, die dem Zuschauer die Illusion vermitteln, in einem Kinosaal zu sitzen. Mit einem entsprechenden Licht- und Sounddesign wird Gruselstimmung wie in einem guten Film vermittelt. Herzschläge, schweres Atmen, das Heulen eines Wolfes oder das Schmatzen beim Blutsaugen verleihen im Hintergrund der Musik eine besondere düstere Atmosphäre, die durch schnell wechselnde Lichtregie verstärkt wird.

Bei der Verfolgung Draculas setzt Cusch zusätzlich drei Statisten ein, die als Dracula-Double fast gleichzeitig an unterschiedlichen Plätzen auf der Bühne oder im Rang erscheinen und dem Zuschauer schnelle Schnitte wie in einem Actionfilm suggerieren. Doch er lässt auch Momente der Entspannung und der Ruhe zu, dann wird aus dem dramatisch-bizarren Grusical zum Atem anhalten plötzlich eine tragisch-romantische Liebesgeschichte mit Popcorn-Feeling und Taschentuchbedarf. Jung kommt vom Musical, hat Schauspiel, Gesang und Tanz von der Pike auf gelernt und weiß auch eine Choreografie auf die Bühne zu bringen. Als neuer Chefregisseur der Musikalischen Komödie hat er mit dieser Produktion einen neuen Maßstab gesetzt.

Karin Fritz arbeitet in dieser Produktion nach Jekyll & Hyde und Der Graf von Monte Christo zum dritten Mal an der Musikalischen Komödie mit Jung zusammen. Sie legen die Geschichte in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, und nach dem Vorbild der großen Kinofilme dieser Zeit entstehen so opulente Bühnenbilder und Kostüme, die dunkel gehalten für die richtige Atmosphäre sorgen. Die Bühnenbilder sind so konzipiert, dass durch schnelle Vorhänge ganze Szenenwechsel möglich sind, ohne dass es eine störende Unterbrechung gibt. Mal steht nur ein großes, rot beleuchtetes Bett auf der Bühne, dann ist es ein großer Sarg. Das reicht vollkommen aus. Die Requisiten werden zwar sparsam, dafür aber mit Liebe zum Detail aufgebaut. In Kombination mit dem Licht- und Sounddesign wird hier tatsächlich so etwas wie eine Filmkulisse angeboten.

Das beste Setting nützt nichts, wenn die Darsteller sich nicht auf die Geschichte einlassen. Die Musikalische Komödie der Oper Leipzig präsentiert mit einem ausgewogenen Mix an Gästen und Hauskräften ein großartiges Musical-Ensemble. Andreas Wolfram ist sowohl optisch wie auch stimmlich die Idealbesetzung des Fürsten der Finsternis. Bedrohlich sein Äußeres, bedrohlich auch sein Gesang, seine Sprache, die angsteinflößend wirkt. Aber er kann auch sanft und zart sein, in den Duetten mit Mina zeigt sich die weiche Seite Draculas. Wolfram verleiht der Figur eine eigene Seele, mit der man auch Mitgefühl haben kann. Physisch und emotional stark präsent, wirkt er manchmal so real, dass man sich auf dem Nachhauseweg in einer einsamen Straße doch schon mal ängstlich umschaut.

Lisa Habermann als Mina Murray verkörpert in dieser Rolle die Sehnsüchte nach Liebe und Begierde. Ihr sanftweicher Sopran schmeichelt, besonders die Balladen singt sie mit Schönheit und Eleganz, um aber auch dramatisch auszubrechen und ihren eignen Seelenkonflikt auszuleben, zwischen Vampir und liebender Frau. Anna Preckeler als Lucy zeigt stimmlich und schauspielerisch mit großem Einsatz den brutalen Wandel von einer naiven jungen Frau zum gefühllosen männermordenden Vamp. Fabian Egli gibt mit sonorem Bariton und engagiertem Spiel den Vampirjäger van Helsing.

Der Tenor Jeffery Krueger gibt den Anwalt Jonathan Harker, den Verlobten von Mina. Er ist der erste, der in Kontakt zu den Vampiren gerät, aber selbst nicht zu einem Untoten mutiert. Auch Krueger überzeugt durch Schönheit im Gesang, aber besonders durch intensives Spiel, vor allem im ersten Aufzug. Sabine Töpfer als schizophrener Renfield in der Irrenanstalt begeistert durch ihr ausdruckstarkes Spiel. Patrick Rohbeck als Arthur Holmwood, Radoslaw Rydlewski als Dr. Jack Seward und Milko Milev als Quincy Morris ergänzen das Vampirjägerteam um van Helsing ebenfalls mit engagiertem Spiel und Gesang. Linda Rietdorff, Nedime Ince und Nathalie Parsa begeistern als blutsaugende, erotische Vampire.

Christoph-Johannes Eichhorn, Solorepetitor mit Dirigierverpflichtung an der Musikalischen Komödie der Oper Leipzig, darf durchaus als Experte für Musicals bezeichnet werden. Er führt das Orchester sicher durch die verschiedenen Stile von Symphonie bis Rock, wechselt schwungvoll die Tempi und gibt wieder Zeit für Atempausen. Mit sicherem Gespür begleitet er die Sänger durch den Abend, und dass es manchmal im Graben zu laut klingt und die Säger in den Forte-Stellen teilweise nicht mehr zu verstehen sind, ist auf die nicht ganz ausgewogene Tonabmischung zurückzuführen und dem Dirigenten oder den Sängern nicht anzulasten. Auch der Chor, einstudiert von Mathias Drechsler, spielt und singt zuverlässig und souverän mit.

Das Publikum der Musikalischen Komödie ist nach über zweieinhalb Stunden nicht mehr zu halten, es gibt großen Jubel und standing ovations für das gesamte Ensemble. Mit dieser Premiere ist nicht nur eine eindrucksvolle, begeisternde Show über die Bühne gegangen, man hat auch sicher neues Publikum gewonnen, das vielleicht neugierig geworden ist auf andere Produktionen.

Andreas H. Hölscher