Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
DAS CABINET DES DR. CALIGARI
(Stéphane Fromageot)
Besuch am
28. August 2016
(Premiere am 27. August 2016)
Damit aus einer Open-Air-Veranstaltung ein Rundum-Vergnügen wird, sind viele Faktoren vonnöten. Anfahrt, Ambiente, Wetter, Temperatur, Gastronomie und allgemeine Organisation sind nur einige Beispiele. Stimmt einer dieser Bestandteile nicht, geraten die übrigen schnell aus der Balance, und der Ärger ist da, ehe die eigentliche Aufführung überhaupt beginnt. Ein Beispiel dafür liefert ein Open-Air-Kino auf der Pferderennbahn Krefeld.
Die Ausgangsbedingungen sind ideal. Das Auto findet auf dem unmittelbar vor dem Hauptgebäude der Pferderennbahn gelegenen Parkplatz eine kostenfreie Stellmöglichkeit. Die hochsommerlichen Temperaturen, die in der nahen Landeshauptstadt für stickige Hitze sorgen, werden hier im Wald von einer sanften Brise gemildert. Die rustikalen Sitzgelegenheiten auf dem idyllischen Vorplatz laden zum Verweilen ein. Da kommt man gern ein wenig eher, um noch einen Imbiss einzunehmen. Fehler.
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Service wird hier ganz klein geschrieben. Bei der Bestellung des Imbisses braucht der Gast nicht zu warten. Das Amt hat es vorgemacht. Man erhält eine Nummer, die irgendwann ausgerufen wird. Man bleibt also in Rufweite. Am Getränkestand werden vier Flaschen auf die Theke gestellt. Gläser? „Kostet dann aber zusätzlich Pfand.“ Das ist gesund, hält es den Gast doch auf Trab, der nun gezwungen ist, seine Gläser und Flaschen wieder zurückzubringen. Vier Personen beenden ihr Gespräch, um gebannt darauf zu warten, wann die eigene Nummer genannt wird. Da. War sie es? Nicht ganz sicher. Aber der Blick auf die auf die Theke geschobenen Schalen zeigt die richtige Bestellung. Ein Tablett gibt es nur bei Fast-Food-Ketten. Besteck übrigens auch. Bratwurst mit einem Picker zu essen, geht. Das Personal wird gebunden, um sich mit Pfandregeln zu beschäftigen, anstatt rasch die Gläser und Flaschen wieder einzusammeln und den Gästen einen unbeschwerten Abend zu ermöglichen.
Die begeben sich schließlich enerviert auf die Tribüne. Abgestempelt übrigens, weil sich vermutlich sonst hunderte von Menschen auf der vom Zentrum weit entfernten Rennbahn einschleichen. Die Stempelei war schon im vergangenen Jahr ein Ärgernis. Das ficht den Veranstalter nicht an. Der verzichtet lieber auf einen pünktlichen Aufführungsbeginn statt auf Werbeclips in unsäglicher Tonqualität, die mitunter so einfältig sind, dass sie wenigstens für Gelächter sorgen – während das Orchester auf seinen Einmarsch wartet. Da nimmt es kaum Wunder, dass der zweite Aufführungstermin nur noch höchstens zur Hälfte besetzt ist.
Alle Pfandmarken noch vorhanden? Dann kann man sich auf das eigentliche Ereignis des Abends konzentrieren. 1920 flimmerte erstmals Das Cabinet des Dr. Caligari in der Regie von Robert Wiene nach einem Drehbuch von Hans Janowitz und Carl Mayer über deutsche Leinwände. Der expressionistische Stummfilm schrieb Weltgeschichte zum Ende der Ära des Stummfilms. In Krefeld wird eine 4K-Restauration gezeigt, also, vereinfacht gesagt, eine Wiederherstellung des Films auf derzeit höchstem digital möglichen Niveau. Eine technische Superleistung, die für den Zuschauer bedeutet, dass er das Material in unglaublicher Schärfe nahezu ruckelfrei betrachten kann. Und das lohnt sich.
Die Kamera von Willy Hameister, Licht und Bühnenbild sind in einer Zeit, in der die Filmhandlung noch stark an abgefilmtes Theater erinnert, geradezu sensationell. Maske, Mimik und Gestik sind in ihrer heute antiquierten Ausdrucksform überzeichnet, verfehlen ihre Wirkung aber nicht ansatzweise. Immer noch – oder wieder – grandios Lil Dagover mit übertrieben dramatischem Augen-Make-up und meist entrücktem Blick. Fantastisch Conrad Veidt als Somnambuler Cesare und beinahe überirdisch Werner Krauß als Caligari. Vor einem Jahrhundert muss das die Leute von den Kinositzen gerissen haben.
Zu Recht, denn die Handlung ist komplex und bietet Anlass zu mancher – politischer – Deutung. Also das, was einen guten Kino-Film bis heute ausmacht und manches moderne Machwerk vermissen lässt. Untermalt wurde die erste Version mit der für damals übliche Verhältnisse dramatisch übersteigerten Filmmusik von Giuseppe Becce. Die gibt es in Krefeld nicht.
2010 hat Stéphane Fromageot eine Filmmusik komponiert, die erst ein Mal aus ähnlichem Anlass aufgeführt wurde. Und er hat großartige Arbeit geleistet. Die Musik wirkt wie entstaubt, ohne den Duktus und die Anmutung jener Zeit aufzugeben. Fromageot hat durchkomponiert, was ein wenig Struktur vermissen lässt und für ein Orchester eine enorme Herausforderung bedeutet.
Denn Kapellmeister Andreas Fellner muss die rund 60-köpfigen Niederrheinischen Philharmoniker mit außergewöhnlicher Präzision führen. Tempo-Fehler werden sofort geahndet. Fellner nimmt es äußerlich gelassen, wippt federnd in den Knien und greift selten zur großen Geste. Im Großen und Ganzen kann er sich auf seine Musiker verlassen. Vor allem aber gelingt es allen gemeinsam, einen erlesenen Klang zu erzeugen, der sich so perfekt an den Film anschmiegt, dass die Besucher sich ganz und gar in den Sog des Films ziehen lassen können. Und mehr geht nicht.
Das sparsam erschienene Publikum dankt mit herzlichem Applaus. Die eigentliche Begeisterung äußert sich im anschließenden Geschnatter. Viele sind ganz aufgeregt, was sie für eine außerordentliche Aufführung erlebt haben. Da wirkt dann die Pfandrückgabe und der niederrheinisch-kultivierte Zuruf „Nicht da anstellen, da müssen Sie auf diese Seite!“ wirklich nur noch lächerlich. Wie schön, dass man sich auf dem Parkplatz noch ein wenig austauschen kann, ohne gegängelt zu werden.
Michael S. Zerban