Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Das Zamus-Ensemble - Foto © Michael Rathmann

Aktuelle Aufführungen

Totaler Kontrollverlust

FUGIT
(Kölner Fest für Alte Musik)

Besuch am
1. März 2016
(Generalprobe)

 

 

Zentrum für Alte Musik, Köln

So manchem Bürger ist es zu anstrengend, beim Sonntagsspaziergang einen Block weiter zu laufen als nötig. Andere lamentieren lautstark über „Wirtschaftsflüchtlinge“, die tausende Kilometer zu Fuß hinter sich bringen, um erträgliche Lebensumstände zu finden. Die Theatergruppe Kamchátka hat sich mit ihrem Leiter Adrian Schvarzstein Gedanken darüber gemacht, wie man einem Publikum mit modernem Musiktheater die individuelle Situation von Menschen auf der Flucht begreiflich machen kann.

Im kleinen, schmucklosen Konzertsaal des Zentrums für Alte Musik liegt leichter Brandgeruch in der Luft. Am Cembalo sitzt der musikalische Leiter des Abends, Michael Hell, davor Sopranistin Gerlinde Sämann. Hell intoniert Plaincte faite à Londres pour passer la Melancholie von Johann Jacob Froberger. Die Tür öffnet sich, ein Mensch in altmodischer, ja, ärmlicher Kleidung betritt mit einem Koffer den Saal. Er setzt sich. Zwischen Musikus und dem neuen Gast gibt es wissendes Kopfnicken. Sämann erhebt sich und singt mit einer Stimme, die für die Alte Musik gemacht zu sein scheint, Udite, udite von Barbara Strozzi. Eine Frau betritt den Saal, ähnlich gekleidet wie ihr Vorgänger, ebenfalls mit einem Koffer in der Hand. Sie setzt sich. Beide sind nervös, und die Nervosität überträgt sich auf das Publikum. Die Sängerin beginnt mit der italienischen Arie Fuggi, fuggi, fuggi. Plötzlich wird die Tür zum Notausgang aufgerissen. Zwei Männer eilen in den Saal und fordern das Publikum auf, ihnen zu folgen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Fugit beginnt. Fugit steht im Lateinischen für er, sie, es flieht, aber auch für menschenscheu. Egal, was es hier bedeutet. Es hat soeben begonnen. Und das Publikum wird in einen Nebentrakt geführt. Ab sofort sind die Besucher Teil einer Gruppe. Im Weiteren wird unwesentlich, was an äußeren Abläufen geschieht. Wichtig für den Besucher, der zum Flüchtling wird, ist, währenddessen in sich selbst hineinzuhorchen. Um zu erfahren, wie es ihm damit geht, die Identität zu verlieren, wie er als Nichts, als Teil einer unbedeutenden Gruppe immer unsicherer wird, je weiter sich der Weg in der Schwärze der Nacht verliert.

Foto © Michael Rathmann

Die Fluchthelfer oder Mitflüchtlinge, so ganz klar wird das nicht – und das ist beängstigend – bleiben stumm. Kommunikation wird auf Schweigen und existenzielle Gesten reduziert. Immer wieder fremde Hände an Schultern und im Rücken, die in neue Richtungen schieben, zur Eile drängen. Der Unmut steigt. Es reicht langsam. Aber es gibt keinen Ausstieg; die Reise zu Ende zu bringen, ist der einzige Ausweg. Weil du längst jede örtliche Orientierung verloren hast. An Zwischenstationen tauchen Musiker auf, die Stücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert spielen. Rechte Entspannung will sich dabei nicht einstellen. Dann lieber weiter. Feiner Nieselregen zerstäubt in der kalten Nacht, verschleiert den Blick auf Ziegelwände, Brachen, kurzum, eine untergehende Welt. Jemand zündet sich eine Zigarette an, sofort ist der Helfer bei ihm, die aufleuchtende Glut hat ihn alarmiert. Mit leisem Zischen verendet der Glimmstängel in einer Pfütze. Die Kälte kriecht in dich hinein, ist jetzt mehr innerlich spürbar.

Endlich scheint ein wichtiges Ziel erreicht. Die Schauspieler, natürlich sind es nur Schauspieler, man hatte das unterwegs vielleicht nur nicht so präsent, weil man auf anderes zu achten hatte, fallen sich in die Arme. Die Musiker spielen fröhlich auf. Es wird getanzt. Aber es ist noch nicht zu Ende. Eine, die letzte Etappe liegt noch vor den Flüchtenden. Die Nacht wird schwarz. Nichts ist mehr zu erkennen außer dem eigenen, steigenden Unbehagen. Die Reise geht zu Ende wie alle Fluchten. Die große Freude will sich kaum einstellen, auch wenn die Akustik der Orgel überwältigend ist. Aber es beginnt keine glänzende Zukunft, kein strahlendes Leben. Stattdessen wird das Publikum in die Ungewissheit entlassen. Es gibt keinen Applaus, keinen Schlussstrich.

Entschwunden sind die Schauspieler Lluis Ferrer Gonzalez-Solis, Claudio Levati, Santiago Rovira Odena, Gary Shochat und Prisca Villa. Sie haben Großartiges geleistet, was wenig mit Schauspiel, aber dann eben doch wieder damit zu tun hat. Schweigen, wenn Reden, Anweisungen, Befehle viel einfacher wären, vollbringen eine logistische Meisterleistung, denn die Flucht hat sich durch wenige Gebäude, auf kurzen Straßenzügen vollzogen, müssen das Publikum immer wieder motivieren, sich auf die nächste Etappe zu begeben, und gleichzeitig die Drohkulisse aufrechterhalten. Ja, sogar für kleinere Impro-Einlagen ist noch Zeit. Für den Abschied vom Publikum nicht. Auch Suzanne Harkämper, die für eine unglaublich stimmige Ausstattung an surrealen, von ihr ausgewählten Orten gesorgt hat, entzieht sich dem Dank für eine tiefergehende Erfahrung, als sie einem irgendwelche Medien vermitteln können.

Das zehnköpfige Zamus-Ensemble tritt solistisch, in wechselnden Kombinationen oder auch in seiner Gesamtheit unter widrigsten Umständen auf, vor allem, was die klimatischen Bedingungen angeht. Kälte und Feuchtigkeit sind eher weniger engere Freunde historischer Instrumente. Umso bewundernswerter, dass sich die Musiker davon nichts anmerken lassen und mit stoischer Gelassenheit einen gelungenen Auftritt hinlegen.

Adrian Schvarzstein hat mit seinem Team eine völlig neue Dimension von Musiktheater geschaffen. Einzigartig, zutiefst emotional angreifend und ohne auch nur einmal einen moralischen Zeigefinger zu erheben. Für jeden, der sich darauf eingelassen hat, hat sich am Ende dieses Abends wohl ein wenig die Welt verändert.

Michael S. Zerban