Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Philip Artus

Aktuelle Aufführungen

Geforderte Fantasie

EVEN THE NIGHT HERSELF IS HERE
(Henry Purcell)

Besuch am
30. und 31. Oktober 2016
(Premiere am 30. Oktober 2016)

 

Theaterakademie,
Staatsoper Hamburg, Opera stabile

Die Musikhochschule in Hamburg macht aus der Not eine Tugend: während der Zeit des Umbaus der Hochschulräume gastiert sie an anderen Aufführungsorten der Stadt oder kreiert Koproduktionen mit anderen Institutionen des Hamburger Musiklebens. Zusammen mit der Hamburgischen Staatsoper wird nun ein Purcell-Abend an der Opera stabile präsentiert, an dem die jungen Studenten aller relevanten Fachrichtungen überzeugend zusammenwirken können.

Auf dem Programm stehen Purcells einzige richtige Oper Dido and Aeneas und die auf Shakespeare basierende Semi-Oper The Fairy-Queen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dido und Aeneas wird in der Inszenierung von Martin Mutschler nicht in traditionellen Handlungsschemata wiedergegeben, sondern vielmehr als gespiegeltes Urbild der Suche nach Liebe durch die Jahrhunderte. Dabei wagt Mutschler zusammen mit der Bühnenbildnerin Carolin Gödecke in den Kostümen von Dennis Peschke sowie unter Einbeziehung der Mediakompositionen von Trinh Hue Luong ein hochabstraktes Spiel, in dem die Pole von Jetztzeit und Antike als äußere zeitliche Begrenzungen und gerade noch erkennbare Bezugspunkte in Erscheinung treten. Sie sind gleichzeitig Ausgangspunkt und Anker einer auf den Zuschauer zurückgeworfenen Aufgabe, die zeitliche und inhaltliche Dimension zwischen diesen Polen und über die Jahrhunderte selbst auszufüllen. Orientierung an der traditionellen Handlung wird dabei so gut wie nicht geboten – die Phantasie des Betrachters ist gefordert, seine eigene Realität mit dem Erlebten sinnhaft zu vernetzen und eine eigene Kongruenz zu schaffen. Das erfordert ein hohes Vertrauen darauf, dass der Zuschauer diesen Schritt leistet oder überhaupt leisten kann durch hinreichend gleiche Empfindungszustände von Darstellern und Rezipienten. Das erfordert auch einen absoluten Glauben an die Eigenständigkeit und Größe der Musik, die Beteiligten auf diese Weise vereinen zu können.

Foto © Philip Artus

Insgesamt wird dem Zuschauer also ein gewaltiges Fantasiepotenzial abverlangt, das sich allerdings mehr und mehr erklärt, wenn man fleißig den klugen Text des Produktionsdramaturgen Alexander Fahima studiert. Ganz alleine ist der Betrachter möglicherweise ein wenig verloren in einer Welt dieser hohen Abstraktion ohne Übertexte, die er heute ja in jedem Opernhaus auch schon bei deutschen Werken gewohnt ist. Andererseits ist es wohl auch das Ziel des Teams, den Zuschauer in seiner Fantasie zu fordern und nicht in den üblichen semantischen Sprach- und Handlungsbahnen zu halten. Es besteht ein nicht unerhebliches Risiko, das Publikum zu verlieren. Der starke Applaus für alle Beteiligte zeigt jedoch, dass die Zuschauer des Abends offenbar Konzept und Umsetzung sehr zu würdigen wissen.      

Die musikalische Umsetzung unter Leitung von Felix Schönherr gelingt mit einem hochkarätigen Hochschul-Sängerensemble, darunter die Dido von Juliane Dennert, Aeneas von Maurice Lenhard, den „Witches“ von Hanna Ramminger und Marlen Korf sowie den Countertenören Benjamin Boresch als Sorceress und Axel Heil als Spirit und Sailor.

Ein vierköpfiger Chor und eine siebenköpfige Orchesterbesetzung sorgen bei der Realisierung für einen mitreißenden Barockklang.  

Alicia Geugelin zusammen mit der Bühnenbildnerin Christin Schumann, den Kostümen von Christin Winkler und der Multimediakomposition von Shimo Zhou treffen bei A Fairy Queen schon von vornherein auf einen wesentlich abstrakteren Handlungsrahmen.

Das Team setzt dementsprechend auf eine sehr offene Form und stellt die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus der eigenen Wirklichkeit als eigentliches Ziel und Zweck in den Mittelpunkt einer nicht gegebenen realen Handlung. Die Personen der Szenen werden wie einer je individuellen Kometenlaufbahn folgend wieder und wieder durch den Zuschauerraum, sprich den Shakespearschen Sommernachtstraum-Wald, geführt. Dabei vollführen sie jeweils den Individuen eigene, teilweise zwanghaft wiederholte Gesten und Bewegungen, denen sie im Laufe des Abends nicht entkommen können. Nur ansatzweise lösen nähere Begegnungen mit potentiellen Partnern sie kurzzeitig aus ihren Bahnen. Ob diese Begegnungen erfüllend sind, wird nie endgültig klar. Bald schon ruft die Umlaufbahn und im Zweifel werden anschließend die eigensinnigen, individuellen Charakterausprägungen bis zur Schrulligkeit verstärkt ausgeprägt.   

Bei der musikalischen Umsetzung im zweiten Teil des Abends kann die Hochschule eine komplett neue, ebenso überzeugende Besetzung auch bei der achtköpfigen Instrumentalbegleitung vorweisen. Unter der markanten Zeichengebung von Bar Avni singen Pia Bohnert, Nivea Raf und Britta Glaser die Sopranpartien, Pauline Jacob die Mezzorolle, Joel Vuik Countertenor, Dustin Drosdziok Tenor sowie Christian Lange die Basspartie. Alle Solisten verstehen trotz des intensiven und nachgerade schonungslosen gestischen Spiels ihre Partien stilistisch sicher und gesanglich überzeugend auszuprägen. Bei den naturgemäß bei einer Hochschulaufführung sparsamen, aber klugen Requisiten verschmelzen ausdrucksstarkes Spiel und barocker Gesang auf berückende Art und Weise, eben wie in einem Zauberwald.

Auch nach diesem zweiten Teil des Abends applaudiert das Publikum ausnahmslos allen Beteiligten auf das Herzlichste.

Achim Dombrowski