Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Barbara Aumüller

Aktuelle Aufführungen

Hoch differenziert in Gesang und Ausdruck

RADAMISTO
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
3. März 2016
(Premiere)

 

 

Oper Frankfurt, Bockenheimer Depot

Selten zeigt sich ein Publikum so enthusiasmiert wie zur jüngsten Inszenierung von Georg Friedrich Händels Radamisto der Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot. Mit Bravo-Rufen und minutenlangem, donnerndem Applaus belohnt es eine sängerisch überragende und dramaturgisch packende Aufführung.

Radamisto zählt nicht unbedingt zu den ersten von Händels berühmten und charakteristischen Bühnenwerken. 1720 für die neu gegründete Royal Academy of Music geschrieben, weist sie in ihrem dramaturgischen Ablauf trotz vierfacher Überarbeitung durch den Komponisten Schwächen auf. Nicht selten versucht man daher im Zuge pragmatisch-kreativen Umgangs mit der Partitur durch Kürzungen und Umdeutungen der Stimmenpartien eine Straffung. Davon lässt sich das Inszenierungsteam in Frankfurt nicht leiten. Musik und Regie wählen die zweite Fassung vom Dezember 1720 mit dem hierfür neu komponierten, unerhört schönen Quartett in der Schlussszene und konzentrieren den Blick auf den genialen Musikdramatiker Händel.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Vordergründig betrachtet könnte man von einer Liebesgeschichte sprechen. Der Titelheld Radamisto und dessen Ehefrau Zenobia geraten unfreiwillig zwischen die Fronten. Tiridate, König von Armenien und verheiratet mit Polissena, der Schwester Radamistos, begehrt seine Schwägerin Zenobia. Da sie sich weigert, erklärt er seinem Schwiegervater Farasmane, dem König von Thrakien, den Krieg. Was dann folgt, sind jedoch keine Kriegsepisoden, sondern ein Schaustück seelischer und familiärer Verwicklungen um der Liebe willen, der ehelichen, der leidenschaftlichen, der besitzergreifenden, der vernunftgesteuerten, der gewaltsam erzwungenen, der Liebe zwischen Geschwistern, der Liebe zum Vater.

Foto © Barbara Aumüller

Regisseur Tilmann Köhler lässt die Protagonisten diesen Facettenreichtum aus Liebeswonne und Liebesschmerz bis hin zur Selbstaufgabe und zum Opfertod nicht einzig in den schönsten Tönen besingen. Mit dem Blick des distanzierten, nüchternen Betrachters erarbeitet er einen realen Bezug. Sein Radamisto ereignet sich im Jetzt. Darauf deuten Videoeinblendungen von Flugzeugträgern, Kampfflugzeugstaffeln, zerbombten Städten und Flüchtlingslagern hin. Köhlers Tiridate könnte ein Mafiaboss sein, in jedem Fall ein Machthaber, der mit selbstverliebter Sicherheit und diabolischer Lust seine Willkür auslebt. Um sich dem zu entziehen, begeben sich Zenobia und Radamisto auf die Flucht. Glaubwürdig wird dieses Szenario, da Köhler von den Darstellern eine unverkünstelt-bildreiche Köpersprache und Ausdrucksdifferenzierung im gesungenen Wort fordert. So gelingt der Blick zwischen die musikalisch vordergründig schön gestalteten Affekte. Plötzlich bedeutend: die Da- Capo-Arien nicht mehr nur die Wiederholung des einmal Gehörten, sondern die Fortsetzung des Geschehens beim Überdenken des eben Gesagten. Das bindet die Aufmerksamkeit. Um seine Sichtweise noch klarer zu veranschaulichen, greift Tilmann zu weiteren Stilmitteln.

Zur Eröffnung jedes Teils der zweiteiligen Oper positioniert er auf der Bühne zunächst das komplette Ensemble wie eine Skulpturengruppe von Rodin und erfasst bereits in der Körperdarstellung das Psychische des einzelnen Charakters als Vorschau auf das Folgende. Damit diese Wirkung nichts stört, hat Bühnenbildner Karol Risz eine raumfüllende Treppen-Bühne aus hellem Holz gebaut. Sie ist eine ideale Projektionsfläche mit natürlich gebrochenen Effekten für die Videoeinspielungen von Bibi Abel und die Lichtchoreographie von Joachim Klein. Und sie bietet eine ideale Form für Tempo und Dynamik und – ob beabsichtigt oder nicht –  Dauerspannung im Zuschauer, der jeden Moment damit rechnet, dass ein Darsteller irgendwann auf dieser Treppe stürzen muss.

Doch das passiert nicht. Mit traumwandlerischer Sicherheit eilen die Darsteller über diese Stufen, stürmen herab, fliehen in die oberste Ecke, oder stürzen sich gar in den Abgrund. Vor spektakulären Effekten hat Köhler jedenfalls auch keine Angst. In jedem Moment haben die Darsteller Atem genug und beweisen völlige Präsenz, um ihre Partien zu singen, wie man sie selten hört, ohne zu vergessen, dass sie mehr darstellen als nur eine Figur. Jede noch so kleine Geste und Haltung ist bedeutend.

Mit volltönender Geschmeidigkeit und vibratoarmer Klangformung zeichnet Paula Murrihy eine edle, stets auf Ausgleich und Milde ausgerichtete Polinessa. Der Counter-Tenor Dmitry Egorov verkörpert Radamisto wenig heldenreich. Vom Charakter her mimt er überzeugend den verweichlichten Typ, der sich lieber in die Opferrolle fügt, als Entscheidungen zu treffen. Stimmlich vollzieht er das mit einer bewundernswerten Stimmkraft und Treffsicherheit für die hochvirtuosen Girlanden. Gaëlle Arquez reduziert die Rolle der Zenobia nicht auf das Bild von der mustergültigen rechtschaffenen Liebenden, sondern gibt sich mit vielfach nuanciertem, ausdrucksvollem Gesang kämpferisch, wild und unbezähmbar. Danae Kontora in der Hosenrolle als Tigrane verzückt durch ihre mädchenhaft schlanke, strahlende Sopranstimme, die Vince Yi mit seinem Counter in Sopranlage vibratoärmer, aber weitaus heller und samtiger überstrahlt. Überzeugend zeichnen beide das Bild der korrupten Soldaten an der Seite des Diktators. Glaubwürdig verkörpert Kihwan Sim den Despoten Tiridate. Mit seinem volumenreichen Bassbariton zeichnet er überraschend vielseitig den zu zahlreichen Täuschungen fähigen Charakter und mimt darstellerisch wie stimmlich überzeugend den erbarmungslosen Machthaber. Trügerisch harmonisch gelingt das lieto fine, bevor Tiridate seine Widersacher kaltblütig ermordet.

Die Musik erklingt dazu unvermindert glockenhell und berückend schön. Nicht immer bietet dies das Orchester unter der Leitung von Simone Di Felice, zusammengesetzt aus Mitgliedern des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, die überraschend professionell die Spielweise auf historischen Instrumenten beherrschen, und Spezialisten an Laute, Cello und Cembalo. Anstelle purer Schönheit gestatten sie sich Zaghaftigkeit, die aufhorchen lässt, entfalten sie eine enorme Farbpracht und gestalten Atmosphärisches, das von tränenerstickter Trauer bis zu donnerndem Toben reicht.

Auch ihnen dankt das Publikum mit größtmöglichem Beifall. Wer immer Gelegenheit hat, sollte sich diesen Radamisto nicht entgehen lassen.

Christiane Franke