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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Barbara Aumüller

Aktuelle Aufführungen

Scheitern an der Moderne

EUGEN ONEGIN
(Peter Iljitsch Tschaikowski)

Besuch am
20. November 2016
(Premiere)

 

 

Oper Frankfurt

Regisseur Jim Lucassen hat sich darauf spezialisiert, in den Protagonisten eines Werkes jenen Wesenskern offen zu legen, dem eine gewisse Zeitlosigkeit wie Allgemeingültigkeit anhaftet. Mit dieser Zielsetzung entwarf er die Neuauflage von Peter I. Tschaikowskis Eugen Onegin an der Oper Frankfurt. Dann wurde er krank, und Dorothea Kirschbaum übernahm seinen Job. Das Ergebnis enttäuscht.

Eugen Onegin basiert auf der gleichnamigen Versdichtung von Alexander Puschkin. Als der Dichter dieses Werk schrieb, stand er unter dem starken Einfluss der Poesie Lord Byrons. Er platzierte die Geschichte in eine Atmosphäre aus Melancholie und Zerrissenheit, Nihilismus und Pessimismus und charakterisierte Eugen Onegin als Repräsentanten einer desillusionierten und sich der Blasiertheit hingebenden Generation, die an der Oberflächlichkeit der Gesellschaft und der daraus resultierenden Sprachlosigkeit verzweifelt. Tschaikowski glaubte sich in diesem „intimen, aber erschütternden Drama“ wiederzufinden. Für sein Libretto wählte er jedoch nicht alle Verse, sondern nur sieben Szenen aus. Auch folgte er nicht der beißenden Ironie Puschkins, die der in seiner Schilderung der russischen Gesellschaft versprühte, sondern verlagerte sich auf wirklichkeitsferne Gefühlsbilder, wesentlich beeinflusst durch eine Musik, die alles Reale poetisiert.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Davon distanzierte sich Lucassen beim Entwurf einer Neuinszenierung an der Oper Frankfurt und setzte auf blasse Nüchternheit in einer ohne Unterbrechung aneinanderreihenden Szenenfolge. Sein Onegin spielt irgendwo zwischen der Endphase der Sowjetunion und dem neuzeitlichen Russland. Darauf deuten die Uniformen des Militärs. Alle anderen Kostüme, die Wojciech Dziedzic entworfen hat, finden sich im Straßenbild der Gegenwart wieder. Eine gewisse Zeitlosigkeit, aber auch Beliebigkeit suggeriert das Bühnenbild von Katja Haß. Platziert auf der Bühnendrehschreibe hat sie ein überaus aufwändiges, raumteilendes Wandmosaik entworfen, das den russischen Alltag als Nebeneinander von Bauernstaat, Tradition, moderner Technologie, Forschung und Raumfahrt beschreibt. Vor dieser Kulisse spielen sich das Fest und das Duell ab. Die Rückwand, sichtbar durch die Drehung der Bühne, ist weiß gekachelt, suggeriert in gleißendem Licht klinische Reinheit und Monotonie einer Brotfabrik. Synchron knetet der Chor den Teig, während alle herrlich klangvolle Erntedankgesänge intonieren. Im dritten Akt durchzieht eine sich in Mäandern schlängelnde, nach zwei Seiten ausgerichtete Sitzbank den völlig abgedunkelten Bühnenraum. Alles ist in Schwarz getaucht, Tatjana sticht totenbleich hervor. Onegin springt über die Bänke. Die angestrebte Nüchternheit kippt in groteske Surrealität.

Foto © Barbara Aumüller

Den Abschluss zum vorderen Bühnenrand und zur Szenerie markiert ein raumhohes Stahlgitter, das zu den einzelnen Szenen geöffnet oder geschlossen wird. Durch die schräge Positionierung gibt dieses Gitter rechts eine Fläche außerhalb der Begrenzung frei. Noch bevor der erste Ton aus dem Orchestergraben erklingt, bezieht die Amme hier schmerzvoll müde gebeugt und schlurfend ihren Posten. Elena Zilio trifft mit schmerzlich rauer Brüchigkeit und verdrängender Klarheit den Ton des alten Weibes. An diesem Ort, der vom rechten Zuschauerrang nicht einsehbar ist, spielen sich zentrale Ereignisse ab, in Auszügen die Briefszene, die Eifersuchtsszene, der Ausschluss Onegins aus der Gesellschaft. Wann immer sich hier Bedeutungsvolles ereignet, leuchtet ein Teil des Schriftzugs, der während des ganzen Abends über dem Tor zu sehen ist, besonders hell auf. In kyrillisch geschrieben bedeutet der russische Text in der Übersetzung von Sarah Kirsch: „Wir werden gehen, uns küssen und altern“. Netter Zierrat, aber völlig belanglos, wie so vieles mehr an diesem Abend.

Immerhin gelingt der Anfang. Kurz glimmt im ersten Bühnenbild emotionale Wärme und schillernder Zauber auf, wenn Tatjana auf einem Stuhlturm thront, fern der Realität ganz in ihr Schreiben vertieft ist und von ihr unbemerkt sich um sie herum Alltägliches bewegt. Ihre Schwester Olga spielt mit den Kindern, ist selbst noch Kind, aber lebenslustig, naiv und draufgängerisch. Stimmlich geschmeidig, strahlend und kraftvoll zeichnet Judita Nagyová eine Olga, die sich in der Einöde mangels Alternativen in Lenski verliebt, schnell kapiert, dass sie bei Onegin nicht landen kann und bei nächstbester Gelegenheit einen Offizier wählt. So zeigt es Kirschbaum. Konsequent weitergedacht müsste Lenski auf ihn eifersüchtig sein. Die eigentlich entscheidende Szene, Olgas Tanz mit Onegin, ist nicht zu sehen. Stellvertretend für sie platzt an dieser Stelle ein in typisch russischer Folklore gekleidetes Tanzpaar herein und sorgt schon durch die kräftigen Farben der Kleidung für eine Explosion. Lenski wirkt daneben umso armseliger. Volltrunken inszeniert er seinen Selbstmord, indem er die Kugel aus seiner Pistole entfernt und Onegin zum Schuss zwingt. Die Herausforderung zum Duell ist für Onegin wie das Publikum unmotiviert und irritierend. Dass ein Kind ihm hierbei sekundiert, unterstreicht nur die Lächerlichkeit des Augenblicks. Stimmlich zu kehlig und zu wenig geschmeidig überzeichnet Mario Chang den von der Geliebten und vom Freund enttäuschten Träumer.

Onegin gibt sich zunächst als gesichtsloser Dandy, der hinter der Sonnenbrille verbirgt, was sein Wesen bestimmt. Wenn er sie absetzt, erlebt der Zuschauer einen Mann ohne Tadel, aber auch ohne Leidenschaft. Entsprechend unaufgeregt, aber herrlich gesungen brilliert Daniel Schmutzhard als Onegin, wenngleich ihm anzumerken ist, dass ihn dieses Rollenverständnis des Leidenschaftslosen und des zu häufig auf der Bühne nur Herumhängenden daran hindert, stimmlich völlig aufzublühen.

In der Schlussszene vom Publikum und der Welt abgewendet, beklagt er losgelöst von allen Zwängen und strahlend schön sein Schicksal. In diesen wenigen Minuten ist Tschaikowsky vollgültig präsent. Vorüber ist dann auch Schmutzhards peinlicher Auftritt, da er in wilden Sprüngen über die Bänke hüpft oder beim Balanceakt ins Taumeln gerät, allerdings weniger aus Liebestrunkenheit. Denn dafür gibt ihm Sara Jakubiak in der Rolle der Tatjana wenig Anlass. Anfänglich ist sie eine spröde Rothaarige, die sich in ihrer Traumwelt zurechtschreibt, was sie in der Wirklichkeit nicht findet. Ihr Brief, den sie an Onegin schickt, ist lange vor der Begegnung geschrieben. Entsprechend ideenlos fällt die Briefszene aus. Als sie ihn in der Schlussszene wiedertrifft, ist sie zu einer irritierend hässlichen und gefühllosen Untoten in einer Welt automatisch gesteuerter Spielfiguren mutiert, schön singend, aber ausdruckslos.

Geballte Emotionalität dringt aus dem Orchestergraben. Sebastian Weigle scheut nicht vor Extremen, um die Gefühlsvielfalt nuancenreich und im großen Bogen auszumusizieren, auch wenn er damit riskiert, manchen Sänger zu überdecken. Sensibilität beweist er in seinem Anspruch, mit den Sängern musikalisch zu atmen und zu fühlen. Eine dramatisch durchgehende Spannung gelingt ihm aber nicht.

Auffallend oft durchschneidet ein enthusiasmiert applaudierendes Premieren-Publikum den Spannungsfaden, was Weigle zunächst durch nahtlose Anschlüsse zu unterbinden versucht. Am Ende kapituliert er und stimmte in den Szenenapplaus mit ein. Auch nach der Gremin-Arie, die Robert Pomakov mit stark tremolierendem Bass zum Besten gibt. Zugunsten einer Restverständlichkeit des Melodieverlaufs bremst Weigle das Tempo auf das Äußerste. Umso rasanter stürmt er in das Finale. Nur beiläufig vernimmt man, wie der Chor den Mörder Onegin ankündigt, was so im Textbuch nicht steht, aber zur Vorstellung von Dorothea Kirschbaum passte. Sie wollte, dass Onegin durch Tatjanas Liebesgeständnis Erlösung von seiner Schuld erfährt. Welche Schuld? Welche Liebe? Welche Botschaft?

Man hat viele Aufführungen geplant. Lucassen löste sich von der Vorlage und provozierte Widersprüche, die Kirschbaum halbherzig fortschrieb. Sebastian Weigle hat das Potenzial, zumindest musikalisch das Beste daraus zu machen.

Christiane Franke