Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ursula Kaufmann

Aktuelle Aufführungen

Wen die Götter lieben

UND AUCH SO BITTERKALT
(Lara Schützsack)

Besuch am
14. Juli 2016
(Premiere)


Asphalt-Festival,
Alte Farbwerke, Düsseldorf

Manchmal ist das Glück mit den Tüchtigen. Zum ersten Mal an diesem Tag reißt die Wolkendecke über Düsseldorf auf und gibt für eine Viertelstunde den Blick auf einen strahlendblauen Sommerabendhimmel frei. Es ist exakt jener Zeitpunkt, als die Jungdarsteller vom Kinder- und Jugendzentrum HiP aus Bonn eine Installation zum Thema Tenebrien – ein Land für die, die zu viel wünschen mit kurzen Performances auf dem Hof vor der Halle 21 der Alten Farbwerke aufführen. Mit kleinen poetischen und komischen Texten stimmen die Jugendlichen gekonnt auf das bevorstehende Theaterstück Und auch so bitterkalt ein.

Wer in den zurückliegenden Tagen das Gefühl hatte, die Poesie komme in diesem Festival zu kurz, wird heute für das Warten entlohnt. Lara Schützsack hat einen Roman geschrieben, in dessen Mittelpunkt Lucinda steht, ein Mädchen, das weltentrückt und selbstbestimmt durch die Pubertät wandelt. Gegen die versuchten Einflussnahmen ihres Umfeldes wehrt sie sich mit Magersucht. Es erfreut sich ja in Theaterkreisen inzwischen großer Beliebtheit, erfolgreiche Romane, ein Debüt wie bei Schützsack noch dazu, auf die Bühne zu bringen. So manchem dieser Bücher wünscht man, ihnen wäre dieses Schicksal erspart geblieben. Nicht so bei diesem, zu dem Regisseur Claus Overkamp zusammen mit dem Ensemble des Theaters Marabu die Stückfassung erarbeitet hat. Um es gleich zu sagen: Overkamp hat mit Manuela Neudegger als Lucinda und Julia Hoffstaedter in den Rollen der Schwester Malina, Mutter Isa und der Erzählerin zwei kongeniale Schauspielerinnen zur Seite, die es ihm leichtmachen, ein Stück in dieser außerordentlichen Qualität auf die Bühne der ausverkauften Halle 21 zu bringen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In keiner Sekunde verlässt der Zauber des Theaters die Bühne. Schon der poetische Ausflug nach Tenebrien, den Lucinda und Malina zu Beginn unternehmen, ist ein erster Höhepunkt. Wunderbar gesetzt das Licht von Bene Neustein, dem es gelingt, mit einer Disco-Kugel und ein paar Scheinwerfern eine verträumte, poetische Szene völlig kitschfrei herzustellen. Regina Rösing schafft es, mit ein paar Requisiten und heutigen Kostümen, die in einen Kleinlaster passen, unglaublich viele Räume in der Fantasie des Zuschauers entstehen zu lassen. Ein runder Flokati bildet den Fokus der Bühne, auf dem ein paar Kissen – ebenfalls im „Eisbärfell-Look“ – und ein Hocker Platz finden. Hinten links ein blauer Kühlschrank, hinten rechts ein Kleidergestell. Ein Mikrofon, eine Gitarre und viele, viele Kleidungsstücke, Accessoires und Perücken – das reicht dann schon, um Küche, Kinder- und Wohnzimmer, Hausflur und Psychiaterpraxis für das Publikum plausibel zu machen. Dass sich vor dem Teppich, also jenseits der Besuchertribüne, ein imaginäres Nachbarhaus mit Garten finden lässt, ist schließlich die leichteste Übung.

Julia Hoffstaedter und Manuela Neudegger - Foto © Ursula Kaufmann

In knapp eineinviertel Stunden entfernt sich Lucinda fast unmerklich aus ihrer Familie, verliert die enge Bindung zu ihrer Schwester, die darunter leidet, erlebt vorübergehend ein erstes Verliebtsein, das spätestens mit dem Freitod des imaginären Jarvis böse endet. Die Eltern, die Schwester, der Psychiater eilen ihr hinterher, ohne sie noch einholen zu können. „Wozu braucht es die Schule? Die Musik bringt dir alles bei“, erklärt Lucinda ihrer Schwester am Beispiel von Girl der Beatles. Neudegger spielt mit unterkühlter Hingabe, dass einem Angst und bange wird. Die Magersucht als Ausdruck der Selbstbestimmung ihres hoffnungsvollen Lebens als zukünftige Muse entzieht sich jedem Pathos. Dass ein solches Talent nicht längst in Film und Fernsehen unterwegs ist, mag man sich ebenso wenig zu erklären wie bei Hoffstaedter, die auch in der Erzählerrolle auf jede Theaterdeklamation verzichtet und zwischen den Rollen von Mutter und Schwester durch das Verrücken eines Stirnbandes wechselt. Dass selbst das schiefgeht, fällt keinem auf, so nuancenreich und eindringlich die Spielweise auf der lebenszugewandten Seite des Stücks. Konsequent wie dramatisch das offene Ende.

Das Publikum ist hingerissen und applaudiert deutlich länger als sonst üblich. Auch wenn an diesem Abend all die Sterne, die Jarvis heißen, nein, auch der da hinten, der Malina genannt wird, nach Verlassen der Halle nicht zu sehen sind – vergessen wird man sie lange nicht. Das einzige Bedauerliche an diesem weiteren erfolgreichen Festivalabend ist der Umstand, dass die Aufführung nur noch einmal am 15. Juli zu sehen ist.

Michael S. Zerban