Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Künftiges Naherholungsgebiet - Foto © Opernnetz

Aktuelle Aufführungen

Perfektion der Zukunft

DÜSSELDORF SOUS-TERRAIN
(Theaterkollektiv Per.vers)

Besuch am
12. Juli 2016
(Premiere am 10. Juli 2016)

 

Asphalt-Festival,
NRW-Forum et al., Düsseldorf

Die Zukunft der Stadt wird schön. Bunt, luxuriös und bequem. Neue Fortbewegungssysteme, edle Refugien in Quartieren, die von der Außenwelt abgeschirmt sind wie Festungen, Wellness-Landschaften, aber auch riesige Vielzweckstadien, an die Kleinst-Kreativzentren angeschlossen sind. Nein, das ist keine historische Aussage zur mittelalterlichen Stadtentwicklung, sondern das sind die Versprechungen von Politikern und „Investoren“ für die Stadt von morgen. Oder genauer für die wohlhabenden Bürger einer Stadt von morgen. Die anderen, über die spricht man nicht. In Düsseldorf hat die Zukunft längst begonnen.

Die international renommierte Agentur Schöner Leben lädt potenzielle Geldgeber zu einer Stadtbegehung ein, um ihre Pläne vorzustellen, wie die Zukunft von Düsseldorf aussieht – stellvertretend für die anderen Großstädte dieser Welt. Dahinter steckt das Theaterkollektiv Per.vers, das seine Gedanken zur Gentrifikation, also den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Stadtviertel „im Sinne einer Abwanderung ärmerer und eines Zuzugs wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen“ mit gleichzeitigem Anstieg der Wohnpreise, theatralisch umsetzt. Um es vorwegzunehmen, Sous-Terrain tritt mit dem Stück Fugit in unmittelbaren Wettbewerb um den Titel Theaterstück des Jahres. Es ist ein kluges, witziges, ironisches, emotionales, durchdachtes Stück mit einem unglaublichen Logistik-Aufwand, das den Zuschauer weitgehend unaufdringlich zur Teilhabe veranlasst und ihn zum Denken anregt. Und wer möchte, darf in den zitronengelben Kostümen von Kirsten Dephoff auch noch einen erotischen Anteil entdecken, um zu komplettieren, was ein perfektes Werk ausmacht.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Christoph Seeger-Zurmühlen, Künstlerischer Leiter des Asphalt-Festivals, zeichnet für die Inszenierung verantwortlich. Er erhebt nicht den moralischen oder politischen Zeigefinger, sondern versetzt sich in die Rolle der Befürworter solcher städtebaulicher Entwicklungen und überzeichnet deren Begeisterung während einer „Stadtbegehung“. Startpunkt ist das NRW-Forum im Düsseldorfer Ehrenhof. Die vier Vertreter der Agentur Schöner Leben begrüßen überdreht die Besucher und stellen ihre Pläne anhand einer Präsentation vor, wie die Zukunft von Düsseldorf aussehen soll. Selbstverständlich geht das viersprachig, weil das Publikum ja aus internationalen Geldgebern besteht. Allerdings braucht keiner ohne Fremdsprachenkenntnisse Angst zu haben, „abgehängt“ zu werden. Wer nicht versteht, wie der Tag auf Französisch erwacht, verpasst von den wesentlichen Inhalten nichts. Sondern freut sich wie ein Schneekönig über die überhöht freundlichen Agenturvertreter, die ihre Gäste mit Komplimenten überschütten, während sie sie zum Bus begleiten. Rezitationen von Versen, Erläuterungen von Stadtführern bis hin zum im Bus getanztem und gesungenem Rap lassen aus der Fahrt ein kurzweiliges Erlebnis werden. An den Haltestationen warten Statisten, die bestimmte Situationen verdeutlichen. Eines der schönsten Beispiele sind sicher die drei Mütter, die mit ihren Kinderwagen über die Rheinwiesen auf den Bus zugelaufen kommen, um schließlich die Müttergymnastik im künftigen Naherholungsgebiet zu demonstrieren.

Nora Pfahl und Jonathan Schimmer unterhalten das Publikum - Foto © Opernnetz

Hochkonzentriert verfolgt das Publikum das Geschehen, um jeden der zahlreichen Wortwitze mitzubekommen. Erste Gänsehaut bekommt man spätestens, wenn Julia Dillmann gleich ganze Straßenzüge abreißen will, um dort ein Frischluftzentrum zu errichten. Da wird das Lachen schon mal sauer. Und was sie mit herausragendem Schauspiel demonstriert, geht mitunter als Scherz durch, obwohl es bitterer Ernst ist.

Das Neubauviertel Le Flair zeigt, dass hier der Spaß aufhört. Vor der edel-mediterranen Fassade des Reichen-Ghettos, unterteilt in abgesperrte Höfe, die für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich sind, erläutern Nora Pfahl und Jonathan Schimmer die Vorzüge der schönen, neuen Welt. Kühlschränke, die sich scheinbar selbst wieder auffüllen, stehen da stellvertretend für all die Bequemlichkeiten neuen Wohnens. Über die Schattenseiten selbstverständlich kein Wort. Als sich die Gruppe auf einem kleinen Platz innerhalb von Le Flair zum Chor formiert, der die Hymne der Projektgruppe Avaler intoniert, ist auch Anna Beetz als vierte im Bunde wieder dazu gestoßen.

Die letzte Station ist ein Brachgelände, über dessen Entwicklung sich die Reisenden selbst Gedanken machen sollen. Sie werden in einen stillgelegten Tunnel der Deutschen Bahn geführt. Der holprige Marsch über die Schwellen zum Klang einer klagenden Violine erzeugt unangenehme Assoziationen. Und es ist nicht die letzte Überraschung, die den Besucher in dieser Umgebung erwartet … Und ohne etwas verraten zu wollen, sei Jörg Reinertz erwähnt, der in diesem Sommer vielleicht die Rolle seines Lebens spielt.

Bojan Vuletič, der andere Künstlerische Leiter des Festivals, hat sich als Komponist selbst übertroffen. Ob die eingängige Melodie von Le jour se léve, chorische oder antizyklische Formationen, sentimentale Violinklänge am Tunneleingang oder Geräuschkonstellationen im Tunnel: Das ist alles stimmig, unaufdringlich dramatisch und kann eigentlich gar nicht anders sein. Nicht nur nach den Klangteppichen des vorangegangenen Abends eine wahre Offenbarung.

So wie die Agenturvertreter scheinbar aus dem Nichts erschienen sind, verschwinden sie auch wieder. Das bedauert das Publikum, das, abgesehen vom Szenenapplaus, keine Möglichkeit mehr hat, sich für eine intensive, überzeugende und sicher schweißtreibende Leistung angemessen zu bedanken.

Dass in diesem Jahr der Biergarten als kommunikatives Zentrum vor allem für Nachbetrachtungen verstärkt in den Mittelpunkt gerückt wird, ist begrüßenswert, wird aber vorerst noch nicht ausreichend angenommen. Obwohl es dort die Gelegenheit gibt, sich mit den Künstlern noch einmal in lockerer Atmosphäre zu unterhalten. Das ist entspannter als jede Premierenfeier. Und den Dank an die Akteure gibt es dann doch noch.  

Michael S. Zerban