Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Opernnetz

Davos-Festival 2016

Werkstatt heißt bunte Mischung

WEINEN, KLAGEN, SORGEN, ZAGEN
(Valentin Silvestrov, Franz Schubert,
Johann Sebastian Bach)

Besuch am
13. August 2016
(Einmalige Aufführung)

 

Davos-Festival, Kirche St. Johann

Die Kirche St. Johann stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist damit die älteste Kirche der Landschaft Davos. Unmittelbar neben dem Rathaus, prägt das gedrehte Kirchturmdach das Ortsbild von Davos Platz. Rund 800 Besucher finden im Innern der immer wieder renovierten Kirche Platz. Die spartanische Ausstattung ist der Reformation geschuldet. Hier findet ein Konzert statt, das den Werkstattgedanken, der das Davos-Festival nach Überzeugung von Intendant Reto Bieri prägen soll, repräsentiert.

Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen ist der Titel einer Kantate von Johann Sebastian Bach aus dem Jahr 1714. Damit eignet er sich scheinbar durchaus als Titel eines Konzertabends in einer reformierten Kirche. Was das Konzert selbst angeht, führt er allerdings eher in die Irre. Denn im Mittelpunkt steht nicht das Schaffen Bachs, sondern der Komponist Valentin Silvestrov. Er ist in diesem Jahr composer in residence, also Gastkomponist für die Dauer des Festivals. Und wie das in einer Werkstatt so ist: Da taucht einer auf, weil er von einem anderen eingeladen wurde, ohne dass man so recht erfährt, warum eigentlich. Aber ist ja schön, dass er da ist. 1937 in Kiew geboren, in Kiew aufgewachsen und studiert, gilt er als einer der führenden Vertreter der Kiewer Avantgarde, die sich in den 1960-er Jahren mit den Mitteln der Zwölftontechnik gegen den Sozialistischen Realismus der russischen Regierung wandte. Silvestrov, der heute noch in Kiew lebt, hat diese stilistische Phase längst überwunden, sich aus der dodekaphonischen Auffassung heraus weiterentwickelt und schließlich zu dem gefunden, was er selbst metaphorische Musik oder kurz Meta-Musik nennt. Anleihen an die Komponisten des 19. Jahrhunderts mischen sich mit religiösen und zeitgenössischen Einflüssen. Inzwischen scheint selbst diese „Verwandlungsmusik“ überwunden, hört man dem Eröffnungsstück des Abends Moments of Silences and Sadness aus dem Jahr 2002 zu, das Joachim Müller-Crépon als Solostück für Violoncello präsentiert. In einer Mischung aus expressiver, melodiöser Bogenführung und Zupftechnik gewinnt vor allem eines an Bedeutung: Die Stille in der Musik. Mülller-Crépon bemisst sie in Takten höchster Wichtigkeit.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Und so endet auch der Abend. Denn überraschend hat Silvestrov für den Abend eine Uraufführung angesetzt. Als Zugabe gibt es Elegy, ein Solo für Viola, ebenfalls aus dem Jahr 2002, das deutliche Parallelen zum Auftakt zeigt und insofern den Kreis schließt. Diesmal wird es von Yuko Hara dargeboten, die sich mit ähnlicher Kontemplation auf das Stück einlässt wie Müller-Crépon. Ja, es entsteht der Eindruck, als sei die Meditation des Musikers wichtiger als die Wirkung der Musik auf die Hörer.

Valentin Silvestrov - Foto © Opernnetz

Mit Liturgical Chants, also liturgischen Gesängen, nur drei Jahre später entstanden, überrascht der Komponist mit einem gänzlich anderen Klangbild. Der Davos-Festival-Kammerchor unter Leitung von Andreas Felber entrückt das Publikum mit melodiösem Gesang in eine russische Fantasie. Ob ein Muttersprachler hier seine Freude gehabt hätte, bleibt dahingestellt. Aber in den Ohren der Hörer klingt es ziemlich russisch. Und schön. Erhebend. Allein für diesen Mittelpunkt des Abends hat sich der Besuch gelohnt, auch wenn es keinen näheren Zugang mittels Übertiteln, Texten oder Ähnlichem gibt.

Durchbrochen wird der Komponisten-Schwerpunkt einerseits durch den Auftritt des Quatuor Ardeo. Vier junge Damen, die seit mehr als einem Jahrzehnt Furore machen. Ihre Interpretation von Franz Schuberts Quartett Nummer 14 in d-moll will so etwas wie eine Rock-Interpretation auf zwei Violinen, einer Viola und Cello. Die Ausdrucksfreude schafft einen angenehmen Kontrapunkt zum Eröffnungsstück.

Zum andern gibt es dann endlich die titelgebende Bach-Kantate. Für die einen überflüssiges Einsprengsel, weil sie wegen Silvestrov gekommen sind, für die anderen die Erfüllung des Abends. Schließlich fügt sich hier zusammen, was zusammengehört. Zum Chor schließt das buntgemischte Ensemble auf, um die Solisten, die mit einer akzeptablen Textverständlichkeit und schönen Stimmen glänzen, zu unterstützen, die Felber immer mit ruhiger und runder Chordirigenten-Hand führt.

So ist aus der Kirche eine Werkstatt geworden, in der ganz unterschiedliche Stilrichtungen zu einem gemeinsamen Konzert zusammengeschmiedet werden. Dem Publikum gefällt das, wenn man dem langanhaltenden Applaus Glauben schenken darf.

Michael S. Zerban