Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Opernnetz

Davos-Festival 2016

Sonntags ist Schluss mit Fantasie

HEUTE LEIDER SONNTAG
(Diverse Komponisten)

Besuch am
14. August 2016
(Einmalige Aufführung)

 

 

Davos-Festival, Hotel Intercontinental

Im 19. Jahrhundert war die Tuberkulose eine der Geißeln der Menschheit. Vor allem Menschen, die sich keine teure medizinische Versorgung leisten konnten, starben tausendfach. Maßgeblich dem Arzt Adolf Hägler-Gutzwiller verdanken die Schweizer die Einrichtung einer Volksheilstätte für unbemittelte Tuberkulosekranke in Davos, das Basler Sanatorium. Die Lungenklinik wurde 1896 am nordöstlichen Ortsrand am Fuß des Seehorns oberhalb des Davoser Sees errichtet und blieb fast ein Jahrhundert lang in Betrieb. 2007 wurde das Gebäude abgerissen. Den Gästen blieb der Ort treu, nur die Klientel hat sich geändert. Seit 2013 ist dort ein Fünf-Sterne-Hotel eröffnet, das im Volksmund wegen seines Aussehens das Goldene Ei genannt wird.

Hier ist am Sonntagmittag ein „Brunchkonzert“ mit dem hübschen Titel Heute leider Sonntag anberaumt. Dem Werkstatt-Gedanken des Festivals folgend, klingt das vielversprechend. Gäste, die ein verspätetes Frühstück genießen, während im Hintergrund ein Orchester spielt. Oder frühstücken gar alle miteinander und zwischendurch greifen die Musiker immer mal wieder zu ihren Instrumenten? Nichts dergleichen. Am mondänen Ort ist offenbar Schluss mit Fantasie. Brunch gibt es ab neun Uhr morgens, ab 11.55 Uhr im Foyer des Untergeschosses das Konzert, „wie es sich gehört“. Immerhin sind die Sitzreihen zu Beginn gut gefüllt. Ein Blick in das Programm zeigt, dass es hier nicht um eine entspannte Matinee am Sonntagmittag handelt, sondern ein ausgewachsenes Konzert die Gäste über die gesamte Mittagszeit „fesseln“ soll, während seit gestern endlich der Sommer eingekehrt ist.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Flötist Matvey Demin, Geigerin Lea Birringer und Jermaine Sprosse am Cembalo eröffnen locker-flockig mit den Promenades von Bohuslav Martinů. Anschließend tritt Jungschauspieler Julian Lehr auf und hält den Gästen die Kleine Sonntagspredigt von Erich Kästner. Das macht er hübsch, und den Gästen gefällt es.

Julian Lehr - Foto © Opernnetz

Das Quatuor van Kujk hat soeben ein Album mit zwei Streichquartetten und einem Divertissement von Wolfgang Amadeus Mozart veröffentlicht. Da liegt es nahe, sich auch hier mit einem Mozartschen Streichquartett zu präsentieren. Ausgewählt wird das Quartett Nr. 19 in C-Dur, besser bekannt als Dissonanzen-Quartett. Lebhaft und kurzweilig geht es in historischer Aufführungspraxis einher. Nach kurzem, intensivem Applaus drängt es das Publikum in die Pause. Anschließend haben sich die Stuhlreihen stark gelichtet. Für Menschen, die um neun Uhr gefrühstückt haben, ist jetzt Zeit für das Mittagessen.

Für die verbliebenen Gäste wiederholt sich der Ablauf. Sylvain Favre-Bulle, Grégoire Vecchioni und François Robin vom Quatuor van Kujk spielen mit dem Cembalisten Sprosse Domenica aus der Pyrmonter Kurwoche von Georg Philipp Telemann; Lehr wählt diesmal Heute ist Sonntag von Peter Bichsel – wiederum sehr amüsant – und abschließend tritt die Davos-Festival-Camerata mit dem Geiger Jiří Němeček auf, um dem Publikum noch einmal Leoš Janáčeks Idyll näherzubringen, ein siebensätziges Werk für Streicher. Das konnten die Festival-Besucher bereits am Vortag im Bahnhof von Davos genießen.

Die Musiker, das haben sie an diesem Sonntag einmal mehr bewiesen, sind souverän genug, auch in anderen Formaten und Zusammenhängen aufzutreten. Vielleicht braucht es bei den Verantwortlichen des Festivals oder des Hotels mehr Fantasie respektive Mut, aus verkrusteten Strukturen auszubrechen. Wünschenswert wäre es.

Michael S. Zerban