Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Killing Desdemona - Foto © Andrea Macchia

Aktuelle Aufführungen

Sterben ist ein Vorgang

TOSCA G8/KILLING DESDEMONA
(Bernhard Glocksin, Jochen Arbeit)

Besuch am
22. Oktober 2016
(Premiere am 21. Oktober 2016)

 

 

Neuköllner Oper, Berlin

Als wenn es darauf ankäme. Und doch: die Kunstgeschichte nahezu jeden Genres ist voll von Visionen und Wünschen, wie sich Menschen ihren letzten Gang vorstellen. Von der „fröhlichen Leich“ über den deftigen Leichenschmaus bis hin zur „besten Beerdigung der Welt“ gibt es kaum eine Facette, der Künstler nicht sehr eigenwillig im Umgang mit dem Tod, diesem endgültigen Ereignis, in ihrer eigenen Vision Gestalt oder Klang verliehen haben. Opern ohne hoch dramatische Sterbeszenen – undenkbar, ein herrlich trauriges Kapitel. Dem schönen Schein dieser Opernwelt rückt die Neuköllner Oper in ihrem überschaubaren Festival In Schönheit sterben mit sieben Aufführungen zu Leibe. Hans-Christian Ströbele, seiner Zeit als Anwalt aktiver Augenzeuge der Polizeigewalt, spricht über seine Erfahrungen vor Ort. Das Festival zeigt, dass „Eifersucht, politisches Kalkül, Ideologie“ als „Normalität“ von Monteverdis Poppea über Toska und Desdemona bis in heutige Diskotheken und Einkaufstempel reichen. Haben unsere Erfahrungen mit Gewalt etwas mit dem Musiktheater zu tun? Näheres verraten exemplarisch zwei Aufführungen des Festivals.

Ist Puccinis Meisterwerk Tosca ein ästhetisierendes Rührstück romantischen Kunstverständnisses, blendet es die „echte, harte Wirklichkeit“ aus zugunsten einer romantisierenden Aufführungspraxis? Lässt sich Gewalt „ästhetisieren“? Autor Bernhard Glocksin nimmt die harte, reale Polizeipraxis beim G8-Gipfel 2001 in Genua zum Anlass, aus der Probenarbeit einer fiktiven Tosca-Aufführung ein Diskussionsforum für Fragen des Umgangs mit Gewalt zu machen, die von einer Regisseurin mit den Hauptprotagonisten Puccinis durchgespielt werden. Dabei überrascht Michael Höppners Inszenierung nicht nur mit lakonisch einfachen Szenen, für die bedrohliche Atmosphäre sorgen ein weißer Paravent, die Projektion des grinsenden Berlusconi, die Andeutung einer Gittertür und eine Staffelei. Das Ensemble in zeitgemäßen Kostümen agiert berührend und auf den Punkt genau. Nina Schwartz als Regisseurin gibt der Szene in ihrer quirligen Art Professionalität und Tempo, Hrund Òsk Arnadottir bringt eine Tosca mit eher verhaltenen Zügen, aber mit einem klaren, hellen Sopran und viel Ausdruckskraft. Gustavo Eda, Tenor, erzeugt als Cavaradossi durchaus Belcanto-Töne, und das finstere Gemüt des Scarpia erhält durch Amadeu Tascas vollen Bariton eine gewichtige Note. Eher im Hintergrund bleibt Daniel Albrecht am Cello, der die Szene oft düster-bedrohlich einfärbt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

„In Schönheit sterben“: Ist das nicht ein völlig respektloser Umgang mit einem ernsten Thema? Was kann daran wohl schön sein? Die Neuköllner Oper ist durchaus bekannt für ihre ungewöhnlichen, auch frechen bis pietätlosen Zugriffe auf klassische Themen – da waren Sterben und Tod einfach mal dran. Die Frage, was Oper kann, will und darf, ist so alt wie das erste Singspiel. Glocksins Inszenierung Tosca nach Ideen von Puccini kennt da keine Berührungsängste. Natürlich hat der G8-Gipfel 2001 in Genua etwas Opernhaftes, ist der Umgang der Polizei mit Protestlern ein Moment, dem sich Kunst zuwenden darf oder muss. Hier sieht Glocksin die Brücke zu Puccini, dessen Figur des Polizeichefs Scarpia und ist überzeugt, dass dem Thema eine ungewohnte Aktualität und Grobheit nicht schadet.

Tosca - Foto © Matthias Heyde

Das gilt noch mehr für die zweite Aufführung des Abends, Killing Desdemona, in der Michela Lucenti und Maurizio Camilli auf Elemente von Verdis Oper Otello zurückgreifen und die eifersüchtigen Kämpfe um die schöne Desdemona den tänzerischen Ausdrucksformen der kleinen Compagnia Gli Scarti unter Andrea Cerri anvertrauen. Vor einem großformatigen Wandteppich mit erotischem Motiv nutzen sie die Expressivität ihres Mediums professionell und überraschen mit Darstellungsformen von Gewalt gegen Frauen in vielen Variationen. Zahlreiche erotische Szenen deuten im flüchtigen Tanz mehr an als manche Realszene, und der Tod des Otello wie der Desdemona passiert zwar unausweichlich, aber doch eher beiläufig.

Die Zuschauer erleben zwei Opernbearbeitungen, die unerwartet aktuell wirken und keineswegs verkrampft daherkommen. Glocksin und Höppner verstehen ihre Interpretation als „Selbstbefragung“. Erst im Verlauf der Aufführung wird dem Besucher klar, dass man das Thema „In Schönheit sterben“ durchaus doppelt deuten, es ironisch begreifen kann. Wenn etwa das Cello zum Folterinstrument wird, ist die Grenze zwischen Realität und Satire schwer zu bestimmen.

So präsentieren Glocksin und Höppner an diesem Abend nicht nur zwei Varianten des Bühnenthemas „Sterben“, sie variieren und aktualisieren den Umgang mit Sterben und Tod auf eine berührende, aber auch befreiende Weise, eine Gratwanderung, die selten genug gelingt.

Das Publikum, mit solchen Zugriffen des Hauses durchaus vertraut, bedankt sich für einen spannenden Theaterabend, der ihnen trotz des final anmutenden Themas nicht die Lust an einer gelösten After-Work-Party nimmt. Ihrem Anspruch, ein „Marktplatz für alternatives Musiktheater“ zu sein, wird die Neuköllner Oper mit diesen beiden Inszenierungen durchaus gerecht.

Horst Dichanz