Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Annemie Augustijns

Aktuelle Aufführungen

Messianische Züge

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)

Besuch am
20. Oktober 2016
(Premiere)

 

 

Vlaamse Opera, Antwerpen

Mangel an Fantasie kann man Regisseurin Tatjana Gürbaca gewiss nicht nachsagen. Dass die Fülle ihrer Ideen bisweilen außer Kontrolle gerät, führt zu denkbar unterschiedlich gelungenen Ergebnissen. Ihr Parsifal an der Flämischen Oper Antwerpen im Wagner-Jahr 2013 stieß auf kontroverse Resonanzen. Am gleichen Ort lässt sie jetzt den Fliegenden Holländer übers imaginäre Meer schippern. Und zwar mit dem Versuch, die Handlung inklusive des geisterhaften Umfelds logisch zu deuten.

Das geht meist schief bei romantischen Stücken, in denen der „höheren Wirklichkeit“ im Reich des Unerklärlichen und Irrationalen eine größere Wahrhaftigkeit beigemessen wird als die empirisch wahrnehmbare und erklärbare Realität. In diesem Punkt ist sich der frühe Wagner noch einig mit den Theorien Schlegels und Tiecks.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Gürbaca lässt sich von den Expeditionsreisen Vasco da Gamas und deren kolonialen Folgen inspirieren. Bei ihr strandet der Holländer offenbar an einer Insel oder Küste, an der Daland die Einheimischen wie ein Sklaventreiber zwingt, Kohle aus dem Bühnengrund zu heben. Eine schmutzige, zunehmend schwarz verschmierte Angelegenheit. Eine Schweinerei, die die ebenso verdreckten Damen im zweiten Akt während des Spinnerinnen-Lieds aufwischen dürfen. Der Holländer zeigt sich entsetzt von den Zuständen, wirft zunächst mit Geld um sich und schenkt Daland ein christliches Kreuz. Wenn selbst seine ausgebreitete Jacke wie eine Reliquie an die Rückfront geheftet wird, nimmt sein Charisma geradezu messianische Züge an.

Foto © Annemie Augustijns

Senta, die in Antwerpen bereits im ersten Akt auf der Bühne präsent ist, ersehnt sich den Holländer als Erlöser und Befreier. Das Geisterschiff gibt es nicht. Der Gespensterspuk im dritten Akt findet lediglich in den vollgesoffenen und zugekifften Köpfen der vermeintlich befreiten Insulaner statt. Am Ende sinkt die ganze Gesellschaft leblos zusammen. Bis auf Daland und Erik. Warum auch immer. Auf die versöhnliche Vereinigung des Liebespaars wird verzichtet.

Schade, dass Gürbacas an sich schöne Geschichte immer wieder mit dem Libretto und auch der Musik kollidiert. Der emotionale Gehalt der Liebesbeziehungen zwischen Senta und Holländer, aber auch der zwischen Erik und Senta verlieren in diesem Konzept jede Bedeutung. Warum der Holländer so kompromisslos auf die ewige Treue Sentas besteht, bleibt ein Rätsel, spielt in diesem Umfeld aber auch keine Rolle

Dabei ist eine Menge zu sehen. Die Figuren sind ständig in Bewegung. Sie prügeln sich, mobben einander, ziehen sich aus und wieder an, sinken dahin, um wenig später wieder aufzuerstehen, besaufen sich und huldigen der Fleischeslust. Dass die Regisseurin Figuren und auch ganze Chöre geschickt und detailreich führen kann, beweist sie auch diesmal. In dieser überdrehten Form jedoch am falschen Stück.

Ausstatter Henrik Ahr begnügt sich zunächst mit einer leeren, schwarzen Bühne, auf der im Hintergrund allmählich eine teilbare Holzwand erwächst, während ein Teil der Decke von einem rechteckigen Spiegel besetzt wird, der das Geschehen auf dem Bühnenboden recht gruselig verzerrt. Am Prägnantesten in der Saufszene des letzten Akts. Eine vorzügliche Idee. Weniger die langweiligen, von Barbara Drosihn designten Alltagsklamotten. 

Die Turbulenzen auf der Bühne spiegeln sich im Orchestergraben wieder. Der junge Dirigent Cornelius Meister fegt mit Volldampf durch die Partitur. Da klingt kein Ton behäbig, Langeweile kommt nicht auf. Allerdings treibt er das aufmerksam reagierende Orchester der Flandrischen Oper so rücksichtslos an, dass die Sänger stets an der Grenze ihrer konditionellen Möglichkeiten singen müssen. Offenbar spielt in der heutigen Kapellmeisterausbildung die Kunst des sängerdienlichen Begleitens keine Rolle mehr. Da ist Cornelius Meister in bester Gesellschaft und ihm selbst kein Vorwurf zu machen, wenn auch berühmtere Kollegen mehr Wert darauf legen, das Blech effektvoll wie die Posaunen von Jericho dröhnen zu lassen als den Sängern wenigstens die Chance zu bieten, eine Art stimmerhaltende Gesangskultur entfalten zu können.

Ärgerlich, wenn dadurch ein guter Tenor wie Ladislav Elgr, der die ebenso schwierige wie undankbare Rolle des Erik in den ersten Akten kraftvoll, nobel und intelligent singt und gestaltet, am Schluss mit den letzten Reserven kämpfen muss. Das darf nicht sein. Und schlimm wird es, wenn eine junge, begabte Sängerin wie Liene Kinča an den Rand des stimmlichen Ruins getrieben wird. Die Rolle der Senta kommt für die Sopranistin ohnehin zu früh. Und wenn ihre Stimme wie jetzt unter Dauerstrom gesetzt wird, ist der frühzeitige Verschleiß vorprogrammiert.

Weniger gefährdet zeigt sich Iain Peterson in der Titelrolle. Trotz eines grippalen Infekts kann er die Wärme und stabile Tragfähigkeit seines Baritons zur Geltung kommen lassen. Darstellerisch darf er sich dabei schonen. Denn ausgerechnet der Titelheld verhält sich in dieser Inszenierung erstaunlich passiv.

Erfreulich die Aufwertung der Mary durch die jugendlich agile Raehann Bryce-Davis, ebenso verlässlich der sonore Daland von Dmitry Ulyanov sowie der blitzblank intonierende Steuermann von Adam Smith. Der Chor präsentiert sich ebenso stimmgewaltig wie spielfreudig.

Das Premieren-Publikum ist sichtlich angetan von der Produktion. Sowohl das szenische als auch das musikalische Team wird mit Begeisterung bejubelt. Im Frühjahr startet Tatjana Gürbaca ihren nächsten Versuch mit Wagner, wenn in Essen Lohengrin auf dem Programm steht.

Pedro Obiera